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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Schutzanzugs zurück. Was er eben gesehen hatte, war die Chronologie des Untergangs. Ganz langsam fing er an zu verstehen. Sie waren nicht gleichzeitig gestorben, sondern nach und nach. Und sein Konto hatte sich nach dem computergesteuerten Prinzip der erblichen Kompetenzen immer weiter aufgebläht.
    Der König ist tot - es lebe der König!
    Jetzt war er der König! Statistisch ausgezählt und einstimmig gewählt, weil es außer ihm keine anderen mehr gab! An den Geldbewegungen auf seinem Konto würde er später vielleicht einmal feststellen können, in welcher Reihenfolge die Menschen in der Stadt gestorben waren ...
    Er wußte nicht, ob er darüber lachen oder weinen sollte.
    Mit der gleichen bizarren Logik, mit der in den vergangenen Jahrzehnten noch kurz vor Jahresende Unsummen von öffentlichen Mitteln verschleudert worden waren, damit sie im neuen Etatansatz nicht gestrichen wurden, mit der gleichen Logik hatten die Datenbänke ihm immer neue Stellvertreterbezüge überwiesen ...
    Er hätte nie geglaubt, daß Verwaltungsvorschriften so krisensicher waren ...
    Er wollte nicht mehr daran denken. Wahrscheinlich würde er in den nächsten Tagen noch weitere Folgen des Zusammenbruchs entdecken, über die er nur den Kopf schütteln konnte.
    Er machte sich keine Illusionen. Fehlerhaft funktionierende Überreste der zerstörten Zivilisation konnten für ihn weitaus gefährlicher werden als die Drohung völliger Einsamkeit und Leere.
    Er mußte aufpassen, höllisch aufpassen sogar!
    Was er jetzt brauchte, war ein Denkpartner, der ihm bei einer Bestandsaufnahme half. Das galt nicht nur für die Zusammenstellung von Gegenständen, die er zum Überleben brauchte, sondern auch für die Ausarbeitung von Modellrechnungen für sein weiteres Vorgehen.
    Es gab nur zwei Schwierigkeiten: Er konnte keine Computer programmieren, und er wußte nicht, wie er seine Zielvorgaben formulieren sollte ...
    Unter anderen Umständen hätte er wahrscheinlich schallend gelacht. Da saß er nun auf den Resten einer Zivilisation, um die drei Viertel der Menschheit die Industrienationen immer beneidet hatten. Mit einem Fingerschnippen hatte er jederzeit reichlich zu essen und zu trinken bestellen können. Wenn ihm kühl war, sorgten Sensoren für sein Wohlbefinden. Wenn er wissen wollte, was in der Welt geschah, hatte er nicht mal einen Knopf zu drücken brauchen.
    Frühling im Winter? Kein Problem. In jeder Suggestivzelle gab es Hunderte von Emo- Programmen. Er hatte von Leuten gehört, die nicht einmal zum Schlafen aus den elektronischen Drogenkisten kamen.
    Wozu auch? Hunderte von Kommunikations-Konzernen hatten mehr Angestellte unter Vertrag gehabt als die gesamte Nahrungsmittelindustrie der nördlichen Hemisphäre.
    Wem das nicht gereicht hatte, der konnte Kurse für Gelenkte Kreativität ein Gemeinschaftstraining zur Selbstverwirklichung oder SJ-Seminare für Religionsgründer belegen.
    Nur wie man Brot backt, Wasserbrunnen in Beton bohrt, verseuchte Luft ohne Strom filtert oder einfach überlebt, hatte niemand gelernt ...
    Er erkannte, wie hilflos er doch eigentlich war. Wenn erst die automatischen Systeme ausfielen, konnte er nicht einmal mehr eine verschlossene Tür öffnen!
    Er schüttelte sich innerlich bei dem Gedanken an den Tag, an dem die Stadt anfing, gegen ihn zu sein. Um eine Reihe von Risiken von vornherein auszuschalten, beschloß er, zunächst in der Kathedrale zu bleiben.
    Im gleichen Augenblick erinnerte er sich wieder an die kleinen Menschen. Er überlegte, ob er sich getäuscht haben könnte. Eine Halluzination vielleicht - ein Wunschbild nach langen Wochen Einsamkeit und Fieber?
    Es mußte Beweise geben!
    Die Cola-Dose fiel ihm ein. Er hob die Hände und tastete nach den Druckpunkten für die Lampe auf seinem Helm. Der scharfe, weiße Lichtstrahl war auf einen spitzen Fokus eingestellt. Er veränderte ihn so, daß er breiter und weicher wurde.
    Vorsichtig stieg er die Treppe hinab. Das Licht reichte aus, um die Stufen im Turm zu erkennen. Eine Minute später sah er den Platz, an dem er Rast gemacht hatte. Die Cola-Dose lag auf der Seite. Er erinnerte sich, daß er sie nicht ausgetrunken hatte. Trotzdem waren auf der Fensterbank nur ein paar halbgetrocknete Spuren zu sehen.
    Er beugte sich nach vorn. Das Papier der Schokoladentafel war wie mit kleinen, sauberen Schnitten in lauter winzige Schnipsel zertrennt. Dort, wo er abgebissen hatte, konnte er keine Spuren von seinen Zähnen mehr sehen. Die Schokolade sah aus, als

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