Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
tummeln kann ...
Wenn sich die Anzahl und das Wissen einer denkenden Lebensform zuerst in tausend Jahren, dann in hundert und schließlich in zehn Jahren jeweils verdoppeln ...
Wenn aus dem Faustkeil Millionen von Atome werden, von denen jedes einzelne ...
Wenn ich denke, daß er denkt, daß ich denke, daß er denkt ...
Sie hatten immer mehr gedacht und immer weniger geglaubt!
Sie hatten ungeheuer viel beobachtet, nachgezählt, aufgeschrieben und interpretiert. Aber es war ihnen nicht gelungen, das, was sie nicht beweisen konnten, einfach als größere Wahrheit zu akzeptieren ...
Konnte er selbst eigentlich an irgend etwas glauben?
Wie hatte sich Robinson verhalten? Oder Gulliver? Faust?
Zunächst Robinson: Er hatte stets gewußt, daß es andere Menschen außer ihm gab. Seine Hoffnung konnte sich darauf gründen, eines Tages gefunden zu werden.
Gulliver! Ein Mann in fremden Welten, der sich nur wunderte, aber nie wirklich vor der Frage stand, ob er aufgeben sollte oder nicht.
Und Faust?
Der hatte sich dem Teufel verschrieben, um an die inneren Geheimnisse des Universums und seiner eigenen Existenz zu kommen.
Goetz wußte plötzlich, was ihm fehlte. Er hatte keine Aufgabe!
Er blickte über das mächtige Dach der Kathedrale hinweg. Es erinnerte ihn unwillkürlich an die Gralsburg Parzivals.
Es gab so viel zu sehen, daß er darüber beinahe die Stadt vergaß. Das Licht der untergehenden Sonne hüllte die Pfeiler, Türmchen und Strebwerke der Kathedrale in ein rötlichwarmes, weiches Licht.
Die Harmonie des unvergleichlich schönen Bauwerks wirkte wie Salbe für seine Seele. Er lächelte glücklich und genoß den Frieden in der Höhe. Am liebsten wäre er für immer hier geblieben ...
Aber es ging nicht!
Er mußte zurück, solange er die Stufen noch erkennen konnte. Bis in den Keller neben der Krypta war es ein weiter Weg. Seit ihm das Wasser vor dem Portal die Verbindung zur Stadt abgeschnitten hatte, mußte er in der Kathedrale bleiben.
Er drehte sich um und tastete sich Schritt für Schritt abwärts. Seine Hände glitten über bröckelige Mauern. Noch hatte er genügend Licht. Dort, wo der massive Teil des Turms begann, sah er seine angebrochene Cola-Dose und Schokoladenreste.
Aus einem angeborenen Ordnungssinn wollte er beides einsammeln. Er beugte sich vor und streckte die Hände aus. Im gleichen Augenblick schrak er zusammen.
Er hatte etwas Weiches berührt, das mit feinen, entsetzt klingenden Schreien über die Mauerkante wuselte.
Goetz taumelte zur Seite. Er stieß mit der rechten Schulter gegen die Innenmauer des Treppenhauses, knickte mit den Knien ein und fiel nach vorn.
Zwei Schatten, nicht viel größer als die Tauben, die er mit seinem Vater früher in Kirchtürmen gefangen hatte, huschten zur Seite. Aber sie sahen nicht so aus wie Tauben, sondern wie ... wie Menschen !
Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Gleichzeitig traten kalte Schweißperlen auf seine Stirn. Er zitterte am ganzen Körper.
Zwerge!
Mini-Menschen!
Menschen ...
Er hätte schreien können vor Freude! Es war ihm ganz egal, wie groß die kleinen Kerle waren. Er hatte Menschen gefunden, lebende Menschen!
»Nicht ... nicht weglaufen!«
Er streckte eine Hand aus. Zu spät!
Die Schatten waren bereits verschwunden. Er kroch auf allen vieren zum Fenster. Sie hatten die Cola-Dose umgekippt und die Schokoladenpackung weiter aufgerissen.
Goetz richtete sich auf. Er zerrte eine Leuchtpistole aus seinem Proviantsack. Mit zitternden Fingern schob er eine Patrone in den Lauf.
Wenn er im Turm schoß, konnte er sie verletzen. Das wollte er nicht. Er hielt die Pistole schräg nach oben und drückte ab. Das Geschoß zischte mit einer rauchigen Spur durch das Turmfenster. Gleich darauf strahlte blendendweißes Licht durch alle Maueröffnungen.
Goetz rannte die Stufen hoch. Er lehnte sich zwei-, dreimal nach außen. Plötzlich sah er sie. Sie liefen über einen schmalen Verbindungssteg auf das Dach der Kathedrale zu. Es waren wirklich Menschen ...
Für einen Augenblick erkannte er sogar ein Gesicht. Es war ein Mädchengesicht mit großen, angstvoll aufgerissenen Augen.
Die Leuchtkugel fiel nach unten. Sie verglühte am Triforium in halber Höhe der Kathedrale. Die letzten Strahlen der Sonne malten die Unterkanten der Wolken am Horizont mit einem kitschigen Rot an.
Goetz lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer des Turms. Sein Herz hämmerte wie wahnsinnig.
Menschen!
Dutzende von Fragen schossen ihm durch den
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