Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Kopf. Wo kamen sie her? Was machten sie hier oben? Und warum waren sie so klein?
Sie konnten höchstens zwanzig Zentimeter groß gewesen sein!
Schwer atmend schluckte er eine Beruhigungstablette. Er war so aufgewühlt, daß er überhaupt nicht mehr an die Rückkehr dachte. Irgendwie kam ihm der ganze Vorfall gespenstisch vor. Wie konnten menschenähnliche Lebewesen auf dem Dach der Kathedrale überleben, wenn nicht einmal die Schutzbunker unter der Stadt ausgereicht hatten ...
Oder war er vielleicht doch nicht der allerletzte Mensch? Seit dreiundvierzig Tagen war er auf kein anderes Überlebenszeichen gestoßen. Sie waren nicht alle gleichzeitig gestorben, aber auch solche, die womöglich den ersten Moment überlebt hatten, hatten sich nicht gemeldet.
Er mußte zugeben, daß er es auch nicht getan hatte. Bis auf die Fahrt mit dem Gabelstapler vom Verlagshaus zur Kathedrale hatte er keinen Versuch unternommen, die Stadt zu erkunden ...
Er streifte die Manschette seines linken Handschuhs zurück. Der Datenterminal an seinem Handgelenk funktionierte noch. Er konnte die Tageszeit ablesen und das Datum, sowie einige andere Angaben.
Die Verkehrsdichte war auf Null gesunken. Trotzdem zeigten kleine Leuchtzeichen eine Menge Hindernisse auf den Straßen aller Stadtteile.
Er versuchte, einen Sender zu bekommen, doch in diesem Anzeigebereich blieb alles tot. Telefon und Suchfunk gaben nicht den kleinsten Piepser ab. Er probierte, ob seine Bankfiliale noch arbeitete. Ein verrückter Gedanke! Jetzt konnte ihm doch vollkommen egal sein, wo das Komma auf seinem persönlichen Verrechnungskonto stand!
Andererseits war er noch immer in seinem gewohnten Lebensschema gefangen. So schnell konnte er auch als letzter Überlebender die kleinen Wichtigkeiten der Vergangenheit nicht überwinden. Obwohl er sich stets dagegen gewehrt hatte, trafen auch auf ihn ganz bestimmte Kastenmerkmale zu:
Alter, Geschlecht, Familienstand.
Ausbildung, Beruf, Einkommen.
Soziale Schicht, Freizeitinteressen.
Persönlichkeitsraster ...
Vielleicht hatte er sich deshalb nicht wohlgefühlt in einer Welt, die stets von Freiheit sprach und Konformverhalten meinte! Die letzte Generation der Menschheit hatte verlernt, was eigene Erfahrung und persönliches Erleben hieß. Und was niemand für möglich gehalten hatte, waren nicht »Sachzwänge«, sondern war Denkfaulheit gewesen!
Er überlegte, was wohl geschehen wäre, wenn irgendeiner dieser angeblich mächtigen Politiker dem Krieg den Krieg erklärt hätte. Nicht in Pressekonferenzen und Protestnoten, sondern genauso wild entschlossen wie bei einem Eroberungsfeldzug. Der Einsatz hätte wirklich zur Weltherrschaft führen können ...
Dreihunderttausend Menschen hatten drei Jahre benötigt, um die erste Atombombe zu entwickeln. Mehr als zwei Milliarden Arbeitsstunden!
Goetz merkte, daß er noch immer auf den Datenterminal an seinem Handgelenk starrte. Irgend etwas mußte er versehentlich falsch gemacht haben.
Er tippte nochmals seine Kontonummer ein. Und wieder erschien der gleiche Kontostand wie vorher:
ECU 9.870.322,79
Fast zehn Millionen europäische Verrechnungseinheiten, jede mit einem Wert von mindestens zehn Dollar!
Unsinn!
Er merkte plötzlich, daß er noch immer in den alten Kategorien dachte. Was waren zehn Millionen ECUs oder hundert Millionen Dollar? Selbst wenn er alle Bankkonten der Welt auf seinem Konto gehabt hätte, konnte er bestenfalls ein Feuer im Mittelschiff der Kathedrale damit anzünden ...
Trotzdem!
Zehn Millionen ECUs konnten ein Fehler sein. Sie konnten aber auch einen Grund haben!
Er tippte auf die stecknadelkopfgroße Taste ERROR EXPL an seinem Datenterminal. Sofort leuchtete der Kontostand auf, den er am Tag vor der Katastrophennacht gehabt hatte. Das sah schon wesentlich normaler aus:
»ECU - 140,20«
Leicht überzogen, obwohl das Märzgehalt schon eingegangen sein mußte! Er tippte den nächsten Tag ein. Immer noch der gleiche Stand. Noch einen Tag später. Keine Veränderung. Fünf Tage weiter.
Der traurige Kontostand veränderte sich nicht. Auch nicht nach zehn Tagen, zwanzig Tagen ...
Die Kontobewegung begann am 8. April. Genau einen Monat nach der Katastrophe kamen die ersten Gutschriften. Zuerst waren es nur Summen um 300 ECUs, doch dann erhöhten sich die Buchungen wie ein wild anschwellender Strom.
Am einundvierzigsten Tag hatte alles aufgehört. Das war der Tag gewesen, an dem er aus seinem Versteck gekrochen war ...
Er schob die Manschette seines
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