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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Schlafenden auf den Treppenstufen hinab. Etwas stieg kalt und drohend in ihm auf. Er wußte nicht, was es war. Nancy war ihm stets als prächtiger Kamerad erschienen. Erst jetzt begann er zu ahnen, wie breit die Kluft war, die sie voneinander trennte. Obwohl sie in einem Laboratorium gezeugt worden war, verstand sie mehr von den Zusammenhängen als alle anderen Bankerts.
    »Warum willst du immer noch ins Sakriversum?« fragte er.
    »Weil es der einzige Ort ist, an dem wir im Augenblick noch leben können - von irgendwelchen Eiswüsten in der Antarktis abgesehen! Wir müssen nur aufpassen, daß Corvay uns nicht ebenso versklavt wie die Schander ...«
    Sie zog einen schmalen, flachen Dolch aus ihrem Gürtel.
    »Das beste ist, wir bringen ihn gleich um wie einen bösen Trieb!«
    »Du bist verrückt!« keuchte Jan.
    »Nein, aber was hier geschieht, ist Wahnsinn!«
    »Wir haben keine andere Wahl!«
    »Doch, Jan! Ich werde es versuchen ...«
    Sie drehte sich abrupt um. Einige von ihren Freunden waren unruhig geworden. Sie wälzten sich im Halbschlaf hin und her. Weiter oben wurden die Wachen aufmerksam. Sie warfen neues Holz in die Feuer.
    »Was ist da unten?«
    Nancy preßte sich in den Schatten der Stufe.
    »Nichts weiter«, rief sie halblaut.
    »Schwierigkeiten?«
    »Nein, nein - nur die Kälte ...«
    »Wärmt euch doch gegenseitig!«
    Zwei, drei Männer auf den oberen Stufen lachten. Nancy ballte die Hände zu Fäusten. Wenn sie bisher noch gezögert hatte - jetzt war sie bereit. Sie wollte nicht mehr mitmachen. Corvays unmenschliches Theater hatte sie von Anfang an abgestoßen. Wenn er sich wie ein kleiner Cäsar oder Napoleon fühlte, konnte sie ihn nicht daran hindern. Aber er hatte kein Recht, so zu tun, als würde ihm jetzt die ganze Welt gehören ...
    Sie schlüpfte in einen Seitengang. Dort, wo die Jäger den Weg zur Fledermauskaverne gefunden hatten, fand sie eine halb abgebrannte Fackel. Sie brauchte einige Minuten, bis es ihr gelang, den Pechstumpf anzuzünden.
    Als die Fackel brannte, hob sie das Feuer hoch über ihren Kopf. Sie leuchtete die Gänge, Spalten und Mauerdurchbrüche aus. Auf gut Glück suchte sie sich einen eigenen Weg nach oben. Sie wußte, daß es Wahnsinn war, aber sie konnte einfach nicht mehr mit Corvay und seinen Männern weiterziehen.
    Die Erinnerung an die großen, hungrigen Kinderaugen der Schander ließ sich nicht mehr los. Was hatten sie getan, daß Corvay und seine Männer sie so quälten? Sie dachte an diese kleine, mutige Frau, die vor allen anderen gezeigt hatte, was sie von den Bankerts hielt.
    War ihr Name Mathilda gewesen?
    Nancy kroch durch einen schräg nach oben führenden Schacht. Erst jetzt merkte sie, auf was sie sich eingelassen hatte. Die Fackel behinderte sie. Andererseits brauchte sie unbedingt Licht, wenn sie weiterkommen wollte. Sie sah nach oben.
    Ihre Erfahrungen mit Kathedralen beschränkten sich auf gelegentliche Besuche von St. Patricks in Manhattan. Bisher hatte sie immer geglaubt, daß Dome und Münster mit alten Raubritterburgen vergleichbar waren - massige, aber primitive Ansammlungen von Steinen, die nur Macht demonstrieren sollten.
    Sie hatte die Kathedrale nie von innen gesehen. Bereits am Tag ihrer Ankunft waren sie und ihre Freunde von Corvays Beratern in die Keller geführt worden - vom Flughafen direkt in die Krypta ...
    Sie schüttelte den Kopf. Eigentlich war alles verrückt! Was machte sie, mit einer Fackel in der Hand, irgendwo in den Mauern einer Kathedrale? Wie kam sie dazu?
    In diesem Augenblick empfand sie wieder diese uralte Angst, die sie noch kleiner machte. Es war, als würden die Mauern ein Gift ausstrahlen, das ihren Atem lähmte und wie ein unsichtbares Gewicht auf ihre Seele drückte.
    Sie wußte nicht, was mit ihr los war. Während sie mühsam nach oben kletterte, fühlte sie sich irgendwie eingefangen. Es war ein Gefühl, das sie noch nie erlebt hatte, fast wie ein dumpfer Drogenrausch ...
    Sie kämpfte gegen ihre Angst, gegen die unsichtbaren Schatten. Die Steine konnten ihr nichts anhaben. Aber da war noch etwas anderes - eine Art heilige Ausstrahlung!
    Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte sich immer für ein ziemlich realistisch denkendes junges Mädchen gehalten. Und was die beiden Schander konnten, die schon unten in den Bleikellern vor Corvay geflohen waren, traute sie sich auch zu ...
    Sie hatte keinen Geheimplan, nicht einmal eine Hälfte, aber sie war immer ganz gut in Geometrie gewesen. Das und die Erfahrungen aus dem

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