Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Hände, stand auf und überprüfte den Laufsteg, der sich von der Außenverankerung eines Scheidbogens als kunstvoll behauenes Gesims bis zum südlichen Turm der Kathedrale zog. Die Strecke war nicht besonders schwierig. Sie mußten nur aufpassen, daß sie auf den teilweise bemoosten Steinen nicht abrutschten.
»Wir könnten es vor Sonnenuntergang bis zu den Türmen im Westen schaffen.«
»Wie schön sie von hier aussehen«, sagte Agnes leise.
*
Zweihundertfünfundneunzig ... zweihundertsechsundneunzig ... zweihundertsiebenundneunzig ...
Goetz taumelte gegen die Mauerwand. Das Blut in seinen Schläfen hämmerte. Er keuchte mit trockener Kehle. Seine Knie zitterten. Mühsam schleppte er sich noch zwei, drei Stufen höher.
Das war doch zuviel für einen angeschlagenen Körper!
Er hatte jede Stufe mitgezählt. Wie ein Automat hatte er sich immer wieder nach vorn geneigt und die Beine nachgezogen. Selbst ein gesunder Mann mußte Schwierigkeiten nach zweihundert Stufen bekommen - wenn er nicht gerade Küster, Postbote oder Schornsteinfeger war ...
Goetz krallte sich mit den Fingern in Mauerfugen. Auf diese Weise kam er wenigstens bis zum nächsten Absatz.
Die 300. Stufe.
Wenn jede Stufe fünfundzwanzig Zentimeter hoch war, hatte er jetzt etwas mehr als fünfundsiebzig Meter Höhe erreicht.
Das mußte reichen!
Er stieg weiter bis zu einem Mauerdurchbruch. Das Turmfenster war nicht verglast. Eigentlich hatte er erwartet, dicke Mauern zu finden, aber der Turm ging in dieser Höhe in eine eher lichte, vielfach durchbrochene Zinne über, die an eine geometrisch geformte, nach oben spitz zulaufende Baumkrone erinnerte.
Goetz setzte sich auf die Fensterkante, lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer und nahm eine Cola-Büchse aus seinem Proviant-Beutel. Er schnippte den Plastikverschluß aus dem Fenster und trank mit langen, durstigen Zügen. Danach schluckte er ein paar Vitaminpillen und brach eine Tafel Schokolade auf.
Während er lutschte, beruhigte sich sein Kreislauf wieder. Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Obwohl er mit geöffnetem Visier nach oben gestiegen war, während ständig etwas reiner Sauerstoff in den Helm strömte, mußte er sich eingestehen, daß er für Anstrengungen dieser Art noch nicht erholt genug war.
Für einen Augenblick klappte er das Visier wieder zu und drehte das Helmventil voll auf. Mit tiefen Zügen trank er den frischen Sauerstoff. Das Hämmern in seinem Kopf ließ nach.
Er drehte das Ventil wieder zu und klappte das Visier hoch. Erst jetzt bemerkte er, was weit unter ihm geschah.
Die Stadt wirkte wie ein bis zum Horizont reichendes, vulkanisches Feld. An Hunderten von Stellen stiegen rauchende Fumeolen auf, nur unterbrochen durch Flammenbündel, die wie mittelalterliche Pestfeuer wirkten. Dazwischen sah er Stadtteile, in denen überhaupt nichts brannte. Sie lagen als isolierte Inseln in einem Meer der Selbstzerstörung.
Merkwürdigerweise schimmerten gerade in den brennenden Bezirken die Straßen so, als wären sie von Wasser überspült. Goetz konnte sich keinen Reim darauf machen. Warum brannte es ausgerechnet dort, wo die Wasserleitungen geborsten waren? Er hatte keine Ahnung, daß Hitze die Wasserleitungen bersten ließ.
Er verstand nicht viel von den komplizierten Versorgungswegen, die eine Großstadt unter normalen Bedingungen am Leben erhielten. Eigentlich wurde ihm erst jetzt langsam bewußt, wie ignorant er bisher sein Leben geführt hatte.
Hatte er sich jemals gefragt, wieviel Mühe und Arbeit erforderlich gewesen war, eine Stadt mit all den Kleinigkeiten zu versorgen, die für ihn selbstverständlich gewesen waren?
Hatte er irgendwann wirklich ernsthaft darüber nachgedacht, warum ein Gemeinwesen funktionierte und was Urbanität hieß?
Und war es bei den täglich neuen, millionenfachen Konfliktmöglichkeiten nicht doch ein Wunder, daß die Menschheit überhaupt so lange überlebt hatte?
Er lachte trocken.
So gesehen hatte er als einziger Überlebender sogar noch Glück gehabt! Was war denn anderes geschehen als das Erreichen einer lange vorausberechenbaren - Sollbruchstelle?
Wenn das Leben in einem Teich wegen Überfüllung stirbt, sobald die Blätter zarter Seerosen seine Oberfläche vollständig bedecken, und wenn sich diese wunderschönen Seerosen jeden Tag verdoppeln - dann ist der Teich nur einen Tag vor seinem Tod ein halbbedecktes Blütenparadies, in dem sich alles, was da kreucht und fleucht, wächst und gedeiht, sorglos in seiner Vielfalt
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