Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
hätte jemand mit einem Messer kleine Brocken abgeschnitten.
Daneben lag ein kleines Medaillon mit einem Stück Kette.
Den letzten Beweis fand er eher zufällig. Es war nur ein Fetzen Stoff, ungefähr sieben Zentimeter lang und drei Zentimeter breit.
Es stammte nicht von ihm ...
Vorsichtig nahm er das kleine Stoffstück hoch. Es fühlte sich wie Seide an, doch dann sah er die winzigen bunten Muster und die kunstvoll geknoteten Fransen an den Kanten. In seinem ganzen Leben hatte er keine feinere Arbeit gesehen. Das, was er für Seide gehalten hatte, roch ein bißchen nach Wolle. Er leuchtete das Stoffstück mit seiner Helmlampe an. Die einzelnen Fäden waren dünner als Spinnweben.
Sie waren da gewesen!
Er setzte sich auf das Sims des Fensters. Während er auf die dunkelrot glimmenden Feuer der Stadt hinabsah, empfand er ein Gefühl der Dankbarkeit.
Er war nicht mehr allein!
Ob er sie finden würde, stand auf einem anderen Blatt. Aber er wußte jetzt, daß es außer ihm noch andere Überlebende der Katastrophe gab ...
Er steckte den Rest der Schokolade ein, stand auf und machte sich auf den langen Weg nach unten. Er begann zu singen - zuerst noch etwas heiser und dann immer fröhlicher und lauter.
*
Die Nacht war lang und kühl. Während die erschöpften Schander eng aneinandergekauert in den Mauernischen schliefen, hatte Llewellyn Corvay einige zuverlässige Bankerts als Wachen eingeteilt.
Er selbst schlief auf der obersten bisher erreichten Stufe neben einem kleinen Feuer. Ein paar Stufen tiefer brannten weitere Feuer, an denen Wachen hockten. Hin und wieder warf einer der schweigsam dösenden Männer Holzspäne in die aufstiebende Glut. Dann knisterten die Flammen und stiegen höher im unbekannten Labyrinth der Stufen, Gänge und Mauerhöhlen.
Corvay hatte den Schandern keine Feuer erlaubt. Er wollte nicht, daß sie sich irgendwelche Tricks ausdachten. Erst sehr weit unten verhinderten die Feuer von Corvays Nachhut jeden Versuch der Schander, heimlich den Treck zu verlassen. Denn Corvay war ein mißtrauischer Mann ...
Einigen Bankerts war es gelungen, etwas Nahrung aufzutreiben. Als die Sonne unterging, hatte Corvay mehrere Suchtrupps zusammenstellen lassen. Ausgerüstet mit Fackeln, Seilen und Säcken waren sie in die Seitengänge des geheimen Weges nach oben vorgedrungen.
Ein Suchtrupp war auf eine Kaverne mit gerade aufwachenden Fledermäusen gestoßen. Blutbespritzt und lauthals grölend waren sie zurückgekommen. Ihre Ausbeute hatte drei magere Fledermäuse betragen - genug für die Bankerts , aber zu wenig für die ermatteten, halbverhungerten Schander ...
Der Geruch von verbranntem Fledermausfett und verkohlten Knochen hing noch immer in den Mauern, als sich dicht unterhalb von Corvays Lager ein Mädchen erhob.
Nancy McGowan zog fröstelnd die Schultern hoch. Im Schatten einer Stufe reckte und dehnte sie sich, bis ihr durchtrainierter Körper wieder gelenkig wurde. Sie dachte an die hungrigen Blicke der Schander zurück. Ebenso wie einige andere aus ihrer Gruppe hatte sie heimlich ein paar Kindern gebratene Fleischreste zugesteckt.
Sie wußte, daß sie im Augenblick nichts gegen Corvay und seine Bande unternehmen konnte. Außer ihr und ihren Freunden gab es noch einige andere, die nicht mit den Methoden des neuen Königs einverstanden waren. Aber ihre Zeit war noch nicht gekommen. Sie mußten sich ebenso wie die Schander fügen, wenn sie nicht auf halbem Weg ins Sakriversum verstoßen werden wollten ...
Nancy strich ihre schwarzen Haare zurück. Ihre Augen hatten sich inzwischen an das flackernde Dämmerlicht gewöhnt. Mit den eleganten Bewegungen einer Tänzerin huschte sie an ein paar Schläfern vorbei.
Sie beugte sich über einen jungen Mann, der laut schnarchend am Rand der Stufe schlief.
»He, Jan! Wach auf!«
Der Angesprochene brummelte nur. Nancy schüttelte ihn an den Schultern.
»Wach auf! Es ist gleich Morgen ...«
»Okay, okay, bin schon am Ball«, murmelte Jan. Er riß die Arme hoch und zappelte wie bei einem Baseballmatch.
»Pst!« zischte Nancy leise.
Ihr Partner richtete sich ruckartig auf.
»Oh, mein Kreuz!« stöhnte er.
»Sei doch still! Du weckst noch alle anderen auf ...«
Er drehte sich zur Seite.
»Was ist denn los?«
Der Lichtschein von den Lagerfeuern flackerte über sein sommersprossiges Gesicht. Er strich mit allen zehn Fingern durch seine dichten, hellbraunen Locken.
»Ich muß erst mal duschen«, sagte er gähnend.
»Hier gibt es keine Duschen,
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