Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
mußt!«
»Ja, aber es gibt einige Kompetenz-Probleme ...«
»Wenn’s das nur ist!« sagte Goetz. »Weißt du denn nicht, daß ich nach der verrückten Logik der Datenbänke nicht nur Chef vom Dienst, sondern auch Oberbürgermeister, Aufsichtsrat von allen städtischen Betrieben, mehrfacher Senatsdirektor und was sonst noch alles bin?«
»Ja, ja«, sagte die MUSE und wippte leise. Es sah aus wie ein zustimmendes Nicken. »Dummerweise hat mein Problem nur bedingt etwas mit den üblichen Verwaltungsvorschriften zu tun ...«
»Ich verstehe! Die Kathedrale!«
»Nein, nicht der Bau an sich.«
»Also kirchenrechtliche Vorschriften«, brummte Goetz.
»In gewisser Weise ja!«
»Na schön! Dann wollen wir’s mal andersrum versuchen. Ich stelle jetzt eine neue Frage, okay?«
»Ja.«
»Ist ... ich meine, kann man aufgrund der bekannten Daten mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, daß noch andere Menschen oder menschenähnliche Wesen die Katastrophe überlebt haben?«
»Diese Möglichkeit ist nicht auszuschließen!«
»Also kann es noch andere Menschen wie mich geben!«
»Kein Kommentar ...«
»Na schön!« sagte Goetz. »Ich glaube, wir kommen uns ganz langsam näher. Gibt es noch Menschen, die größer als zwei Meter sind?«
»Nein.«
»Größer als einen Meter und achtzig?«
»Ja.«
»Moment! Ich meine, außer mir ...«
»Das nicht.«
»Größer als anderthalb Meter?«
»Nein!«
»Kleiner?«
Die MUSE schwieg. An der Vorderseite des Kastens glitt eine Art Metall-Rollo hoch. In einer Gasschicht zwischen zwei Glasplatten formten sich farbige, dreidimensionale Holografie-Bilder. Die MUSE verwandelte sich in eine Unterhaltungseinheit. Leise, schmelzende Musik kam aus unsichtbaren Lautsprechern. Vogelzwitschern vermischte sich mit dem Geräusch von Brandungswellen.
Und dann tauchte das plastisch wirkende Bild einer Palmeninsel auf. Betörende Gerüche von süßen Blüten, Kräutern und Kokosmilch strömten durch die innere Zentrale.
Mit einer weichen Überblendung wechselte das Bild. Goetz sah, wie Auslegerboote mit fächerförmig gespreizten Segeln durch weiße Brandungskränze vor der Insel stießen. Sie näherten sich dem weißen Sandstrand, an dem plötzlich Hunderte von barbusigen, braungebrannten Mädchen auftauchten.
»Leg die Gefühlssonden an die Schläfen«, sagte die MUSE .
Goetz bewegte mit einem sanften Fingerdruck an den Lehnen den Sessel auf die MUSE zu. Immer noch die alte Seelendroge! Seit sie denken konnten, hatten die Menschen kaum etwas unversucht gelassen, immer wieder ins Unterbewußtsein zurückzufliehen. Die Flucht aus der bedingungslosen Verantwortlichkeit für das eigene Handeln hatte die Träume und den Regenbogen, die alten Initiationsriten und religiösen Feste zu ebenso selbstverständlichen Flucht-Symbolen gemacht wie den sorgsam dosierten Giftrausch und die Verdrängung der Realität durch vorproduzierte Scheinerlebnisse.
Die MUSE wollte oder durfte ihm keine Antwort geben.
Sie handelte einfach so, wie es ein Mensch an ihrer Stelle getan hätte: sie versuchte Goetz durch einen starken Emotionsschleier von seinen Fragen abzulenken ...
»Das funktioniert nicht mehr!« sagte er grimmig. Er wußte inzwischen, daß seine Instinkte für ein Überlebensprogramm nicht ausreichten. Nichts konnte gefährlicher für ihn werden als ein passives Reagieren auf die Echos der Vergangenheit.
Es gab keine eingespielte Ordnung mehr, deshalb mußte er sich in jeder Sekunde zwingen, selbst zu denken und zu handeln!
»Mach das aus!« befahl er der MUSE .
»Magst du vielleicht etwas anderes?« fragte sie, während die romantischen Bilder erloschen.
»Es kommt nicht darauf an, was man mag, sondern was mir überleben hilft! Wo ist dein Basis-Speicher?«
»Willst du mich etwa umprogrammieren?«
»Nein! Nur einen grundsätzlichen Befehl eingeben ...«
»Ich muß dich warnen. So schwerwiegende Veränderungen können alle anderen gespeicherten Informationen beeinflussen.«
»Ich kann nichts mit einer MUSE anfangen, die innerlich noch anderen Herren dient! Entweder du trennst dich von deiner alten Loyalität, oder ich sperre dich in die nächstbeste Besenkammer!«
Die MUSE zögerte. Auf ihrem Bildschirm leuchtete ein zartes, durchscheinend wirkendes Frauengesicht auf. Es erinnerte ihn unwillkürlich an Luise Henriette Bruhns, die spätere Gräfin Finck von Finckenstein.
Aber da waren noch andere Züge in dem schmalen, edel wirkenden Gesicht. Eine stille Traurigkeit umschattete
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