Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
gegeben. Deshalb können wir hier in dieser Stadt etwas für ein neues Leben tun.«
»Mit Futterstellen?«
»Ja. Natürlich gibt es auch in anderen Regionen unverseuchte Nahrungsmittel-Lager. Aber nur hier ist jemand da, der sie zielgerichtet einsetzen kann!«
Goetz nickte zustimmend. Was die MUSE sagte, klang einigermaßen logisch. Trotzdem wurde er den Verdacht nicht los, daß er nach einem lange vorbereiteten Plan eingesetzt werden sollte.
Es mußte irgend etwas mit den kleinen Menschen zu tun haben, die er am Vorabend oben am Dach der Kathedrale flüchtig gesehen hatte ...
»Wo fangen wir an?« fragte er.
»Hier.«
»Was heißt das?«
»Nimm Nahrungsmittel aus dem Lager hinter der Abendmahlsgruft und bring sie nach draußen. Achte darauf, daß Getreidekörner dabei sind, ungeschälter Reis, Milchpulver und getrocknete Früchte. An jeder Futterstelle, die du einrichtest, sollte ein Wasserloch sein. Vergiß die Meisenringe mit Fett und Samenkörnern nicht! Das Land wird unverseuchte Samen brauchen ...«
Sie wußte so genau, was sie sagte, daß Goetz sich überlegte, ob hier nicht etwas geschah, was er nicht überblicken und beurteilen konnte.
Sein Gefühl sagte ihm, daß es nur gut sein konnte, wenn er unverseuchte Früchte der Erde aus den Kellern nach draußen brachte. Es war soviel da, daß er mehrere Futterstellen einrichten konnte. Andererseits kam die Idee für seine neue Aufgabe nicht von ihm. Genau das machte ihn unsicher ...
Wurde er durch den an sich vernünftigen Vorschlag der MUSE schon wieder in eine emotionale Abhängigkeit gedrängt? Hatte sie nicht indirekt zugegeben, daß es außer ihm irgendwo auf der Erde auch noch andere Menschen geben konnte?
Er erhob sich aus dem Sessel. Schweigend ging er bis zu den Scheiben der Kanzel. Erst jetzt sah er, daß in die gegenüberliegende Wand eine zweite Regiekanzel eingelassen war. Durch dicke Scheiben erkannte er dahinter ein großes Studio, in dem ein mittelalterlicher Dorfplatz aufgebaut war ...
Vom Fenster der inneren Zentrale sahen die Toten wie Marionetten aus. Viele waren einfach in der Bewegung erstarrt, aber einige trugen noch den Schrecken des Erkennens in ihren Gesichtern.
Goetz konnte das grausame Panoptikum nicht länger ertragen. Er bekam plötzlich keine Luft mehr. Abrupt drehte er sich um.
»Wo soll ich anfangen?«
»In den Türmen der Kathedrale!«
Er hob die versengten Brauen.
»Dort haben früher hochfliegende Vögel genistet.«
Er nickte. Das war eine brauchbare Erklärung.
»Also gut! Aber ich komme wieder. Und dann will ich mehr wissen! Viel mehr sogar ...«
Die MUSE zwitscherte. Es klang wie das vergnügte Lachen eines jungen Mädchens.
11. KAPITEL
Nancy McGowan spürte das Kitzeln der Sonne in ihrer Nase. Sie murmelte im Halbschlaf, verzog das Gesicht und mußte plötzlich niesen.
Erschreckt richtete sie sich auf. Sie brauchte einige Sekunden, bis sie sich in der ungewohnten Umgebung zurechtfand. Hellgraue, an den Fugen schwarze Steine bildeten ein kaum einen Meter großes Nest hoch über den Dächern einer fremden, unbekannten Stadt.
Die Sonne stand genau im Zenith. Nancy massierte ihre schmerzenden, aufgeschrammten Hände. Gleichzeitig fiel ihr ein, wo sie sich befand. Obwohl die Sonne warm war, fröstelte sie. Sie zog die Schultern hoch, aber auch das half nichts gegen die innerliche Kälte. Seit sie vor siebzehn Jahren geklont worden war, hatte sie stets ein Schuldgefühl gegenüber ihrer Schwester-Mutter gehabt. Das Experiment, in einem Laboratorium das Duplikat der göttlichen Diva herzustellen, war mißlungen. Die eigentliche Nancy McGowan hatte sich an einem wunderschönen Frühlingsmorgen von der Golden-Gate-Brücke gestürzt, nachdem ihr gezeigt worden war, wie ihr Duplikat aussah.
Nancy McGowan II. entsprach in allen Einzelheiten ihrem biologischen Vorbild, aber bisher hatte kein Nobelpreisträger erklären können, warum die zweite Nancy nicht größer als zwanzig Zentimeter geworden war ...
Sie erinnerte sich an die grausamen, unpersönlichen Jahre im Licht der Laborscheinwerfer. Selbst ihre Träume waren immer wieder aufgezeichnet, analysiert und vermessen worden. Ähnlich wie einige Jahrzehnte vorher das künstlich gezeugte Mädchen Louise war Nancy McGowan II. nie allein gewesen. Viele hatten sich wissenschaftlich für sie interessiert, aber niemand hatte sie mit einem kleinen Hund spielen lassen oder ihr gezeigt, wie schön Pusteblumen sein konnten.
Nancy dachte an die bitteren Jahre in den
Weitere Kostenlose Bücher