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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Kabarets zurück. Sie war ein Wunderkind gewesen. Ein Monstre en miniature!
    Als Corvay sie vor fünf Jahren aus den Labors geholt hatte, war sie ihm dankbar gewesen. Er hatte sie gut behandelt und war wie ein Vater zu ihr gewesen. Erst als sie begann, eine Frau zu werden, war ihr klar geworden, daß Corvay sie die ganze Zeit skrupellos ausgenutzt hatte.
    In den vergangenen drei Jahren hatte sie jedem Versuch Corvays widerstanden, sie erneut einzufangen. Zusammen mit Jan und ein paar Freunden hatte sie sich selbständig gemacht. Es waren schöne Jahre gewesen ...
    Sie richtete sich auf und sah über die immer noch brennende Stadt hinweg. Am Horizont stiegen weitere Rauchwolken wie schwarzgraue Tornadoschläuche in den Himmel. Die fernen Waldflecken wirkten rötlichgrau und leblos. Auch die Felder und Häuser an der Peripherie der Stadt zeigten keine Spur von Leben.
    Nancy drehte sich um. Sie dachte an das junge Paar der Schander, das sich in der Gruft abgesetzt hatte, um allein das Sakriversum zu erreichen: Guntram und Agnes. Wie weit sie wohl gekommen waren?
    Sie blickte zum steilen Dach der Kathedrale hinüber. Irgendwo dort unter den majestätisch wirkenden Flächen und den feinziselierten Mauerverzierungen mußte das Sakriversum sein!
    Sie reckte sich und machte ein paar Kniebeugen. Mit leichten Schritten näherte sie sich den Stufen, die im Mittelteil des südlichen Kathedralenturms weiter nach oben führten. Obwohl sie durstig war und Hunger hatte, fühlte sie sich frei und stark.
    Sie sprang die Stufen hoch, wählte geschickt Abkürzungen über Mauervorsprünge und Querstreben und blieb dabei möglichst in der wärmenden Sonne.
    Vor vielen Jahren hatte sie einmal ein Eichhörnchen im Garten des Labors gesehen. Seit dieser Zeit waren diese behenden, putzigen Baumkletterer ihre Vorbilder.
    Einer der letzten Wasserspeier ragte wie ein fliegendes Reptil aus dem Mauerwerk zwischen dem Dach des Mittelschiffs und dem südlichen Kathedralenturm. Nancy nahm Maß und sprang. Bröckliger Stein löste sich zwischen ihren Fingern. Sie faßte nach. Ihr kleiner Körper pendelte sekundenlang über dem Abgrund. Ihre Füße suchten nach einem Halt. Sie fühlte, wie der mehlige Stein nachgab.
    Instinktiv ließ sie sich mit einem weiten Schwung fallen. Schräg unter ihr befand sich das feine Maßwerk aus Trapezrahmen und Zirkelschlägen: der südliche Turm.
    Sie rutschte über behauene Steine. Mit einem kurzen, kräftigen Aufschwung landete sie genau in der Nische zwischen zwei spitzwinkelig zusammenstoßenden Gesimsen. Sie preßte ihren Rücken gegen die Mauer. Mit weit ausgestreckten Armen versuchte sie, ihr Gleichgewicht zu halten. Ihre Finger tasteten nach Fugen, Vorsprüngen und Mauerlöchern.
    Unter ihr wallten bräunliche Rauchschwaden an den Außenmauern der Kathedrale nach oben. Sie hustete und würgte. Jede weitere Bewegung konnte ihren Absturz bedeuten.
    Nancy hob den Kopf. Sie sah zum Giebel des Kathedralendachs. In unerreichbarer Nähe leuchtete das Rosettenfenster auf. Es strahlte in allen Farben des Regenbogens: in tiefem Blau, blutigem Rot, goldenem Gelb und im verschwundenen Grün der Wälder.
    Das Dach der Kathedrale sah plötzlich wie eine Insel aus. Es leuchtete wie ein Felseneiland, dem selbst die gierige Brandung aus den Schluchten der Stadt nichts anhaben konnte. Das Dach war stärker und beständiger als das Gift von unten ...
    Nancy zog sich vorsichtig höher. Weiße Cirruswolken im klaren Himmelsblau wiesen ihr den Weg. Sie standen als lichte Bojen über dem Dach der Kathedrale.
    Nancy wollte zum Rosettenfenster. Dort, nur dort konnte der Eingang zum Sakriversum sein ...
    *
    Die Kinder weinten nicht mehr.
    Sie hingen an den Armen ihrer Mütter, die sie von Stufe zu Stufe weitergeschleppt hatten. Einige fieberten vor Durst und Hunger.
    Auch die Erwachsenen hatten jedes Zeitgefühl verloren. Sie schleppten sich nur noch mühsam weiter. In unregelmäßigen Abständen kamen Paukentöne von oben. Der lange Treck war so weit auseinandergezogen, und niemand verstand mehr, worum es eigentlich ging.
    Schritt für Schritt quälten sich Bankerts und Schander höher. Mit jeder Stufe, die sie dem Sakriversum näherkamen, rückten sie etwas mehr von ihrem eigentlichen Ziel ab. Sie glaubten nicht mehr an einen Erfolg.
    Durst, Hunger und die Qualen des Aufstiegs hatten die Unterschiede zwischen den ungleichen Völkern verwischt. Schander-Frauen halfen Bankert- Helden, die erschöpft ihre Waffen wegwarfen. Junge Bankerts

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