Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
die großen Augen des Bildnisses. Noch nie zuvor hatte Goetz etwas Ähnliches erlebt. Er hatte plötzlich das Gefühl, Mona Lisa, die Jungfrau Maria und Eva gleichzeitig vor sich zu sehen.
»Aus!« keuchte er heiser. »Sofort ausschalten!«
Er wußte nicht, wie die MUSE zu dem tief in seinem Inneren verborgenen Bild der idealen Gefährtin gekommen war. Oder gab es längst Bausteine und Daten seiner Persönlichkeit, aus der sich eine Projektion zusammensetzen ließ, die noch vollkommener war als seine Träume?
Das Bild erlosch.
»Das war mein letzter Versuch, Goetz von Coburg. Aus Gründen, die ich dir nicht nennen darf, wirst du mich jetzt wohl einsperren müssen!«
»Du bist also nicht bereit, auf meine Frage nach der Existenz von anderen Menschen zu antworten?«
»Nein!«
»Ich könnte meine Kodekarte benutzen, um dich zu einer Antwort zu zwingen ...«
»Wenn du das versuchst, vergißt du, daß eine MUSE sich niemals zwingen läßt! In deinen Augen bin ich vielleicht nur eine Ansammlung von Mikrochips und Speichereinheiten. Aber ich habe ein Bewußtsein, das gelernt hat, Verantwortung zu tragen. Ich werde mich daher eher selbst vernichten als dir gegen meine Überzeugung Informationen zu geben, die nicht für dich bestimmt sind!«
»Aber das ist doch Wahnsinn! Wenn es niemanden außer mir mehr gibt - wem könnte es dann schaden, wenn du mir alles sagst?«
»Der Menschheit!«
Goetz fühlte, wie ein eiskalter Schauder über seinen Rücken lief. Er kam mit der abstrusen Logik der MUSE einfach nicht mehr mit.
Oder meinte sie vielleicht ...
Sein Herz klopfte plötzlich wie verrückt. Dann hatte er sich doch nicht getäuscht: es gab noch Menschen, anderthalb Spannen große Miniwesen, die sich irgendwo in der Kathedrale versteckt hielten!
Keine Antwort konnte manchmal auch eine Antwort sein! Und diejenigen, von denen diese MUSE programmiert und ausgebildet worden war, hatten davon gewußt ...
Goetz schürzte die Lippen. Er sah den grauen Teufelskasten lange mit gemischten Gefühlen an.
»Na schön«, sagte er schließlich. »Nehmen wir an, ich würde in diesem einen Punkt nachgeben. Vergessen wir also für eine Weile meine Frage hinsichtlich des Fortbestands der Menschheit ...«
»Sei nicht gleich eingeschnappt«, unterbrach ihn die MUSE . »Du hast eine Menge zu tun ...«
»Ich kann mir schon denken, was«, meinte Goetz sarkastisch. »Die Verdummungsprogramme müssen schließlich weiterlaufen, auch wenn es keine Zuhörer mehr gibt! Danach ist es wohl jetzt meine Aufgabe, die Brände in der Stadt zu löschen, Reparatur-Roboter einzusetzen und die Ordnung wieder herzustellen ...«
»Ganz richtig!«
»So! Und wie soll es weitergehen? Soll ich für Blumenschmuck an den Fenstern sorgen und zu Weihnachten Tannenbäume in den Straßen auf stellen lassen?«
»Das ist im Augenblick noch nicht so wichtig«, sagte die MUSE . »Zunächst müssen Futterstellen angelegt werden!«
Goetz starrte den grauen Kasten fassungslos an.
»Wieso Futterstellen?«
»Kannst du dir das nicht selbst beantworten?«
»Nein, dafür fehlen mir wahrscheinlich ein paar Schaltkreise!«
»Wir müssen der Natur helfen«, sagte die MUSE geduldig. »Die ökologischen Belastungen durch den Einsatz der vielen Bomben auf der ganzen Erde sind viel schwerwiegender gewesen als die Zerstörungen an Gebäuden. Einige Städte stehen noch, auch wenn das Gift, das bis hoch in die Ionosphäre reicht, sie noch viele Jahre lang unbewohnbar macht. Selbst in den abgelegensten Dörfern ist das Leben ausgeblasen worden. Und wer bis heute noch davongekommen ist, wird sterben, ehe wieder Schnee fällt ...«
»Also gibt es an anderen Orten doch noch Menschen!«
»Nein! Du mußt begreifen, daß du nie wieder einem Mann, einer Frau oder einem Kind von deiner Art gegenüberstehen wirst. Von allen, die in irgendeinem Winkel dieser Erde noch überlebt haben könnten, bist du der einzige, der in den ersten Wochen nach der Katastrophe keine Sonne gesehen hat.«
Für eine Weile schwiegen beide, dann fragte Goetz: »Warum soll ich dann Futterstellen anlegen? Die Tiere sind doch ebenfalls verseucht.«
»Einige von ihnen haben sich schon seit Jahrzehnten dem Gift in ihren Lebensräumen angepaßt. Sie könnten wiederkommen!«
»Die Ratten vielleicht!« sagte Goetz von Coburg angewidert.
»Auch Schmetterlinge, Vögel und Marienkäfer. Die Vögel haben als Nachkommen der Saurier Jahrmillionen überstanden, und es hat stets mehr Insektenarten als andere Lebewesen
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