Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
schleppten Clan-Chefs der Schander über schwierige Stufen. Und überall blieben ausgelaugte, müde Angehörige der beiden Rassen auf den Stufen zurück ...
Lello entdeckte als erster das Vorratslager.
Corvays Narr hatte sich stundenlang zwischen Mathilda, der gefährlichen Widerstandsgruppe von Nancy McGowan und den Beratern des Königs herumgetrieben. Immer auf der Suche nach möglichst bequemen Wegen des Aufstiegs war er unvermutet gegen einen Haufen mannsgroßer Beutel, Säcke und Tüten geprallt.
Er hatte eine Fackel bei sich. Vorsichtig nach allen Seiten sichernd rammte er den Stiel in eine Mauerspalte. Er beugte sich über den unerwarteten Schatz. Mit beiden Händen griff er in den Reis. Er stopfte sich zwei Reiskörner gleichzeitig in den Mund.
Fett! Trockenobst! Wasser ...
Lello fraß und soff wie ein Tier. Er füllte seine Taschen, ehe er sich zur Seite wälzte und die anderen alarmierte.
»Wasser!« schrie er. »Hier gibt es Wasser, Korn und Obst ...«
Ausgehungerte Gesichter tauchten im Licht der Fackel an der Wand auf. Sie stürzten sich auf Lello, bis einige von ihnen das Vorratslager entdeckten.
»Du gemeiner, eigennütziger Schuft!« keuchte der erste.
»Wenn das der König wüßte ...«
»Backpflaumen!« stöhnte ein anderer entzückt.
»Gib mir vom Wasser, ehe ich dich töte!«
Der Kampf um die Vorräte lockte immer mehr Flüchtlinge an. Korn, Reis und Trockenobst flog über die Streitenden hinweg. Die Schander hatten keine Angst mehr vor den Bankerts. Jeder von ihnen prügelte und raufte sich um eine Handvoll Reis. Tüten und Sackreste flogen in kleinen Fetzen über die Köpfe. Jetzt schrien auch die Kinder wieder.
In weniger als zehn Minuten war das Vorratslager restlos ausgeplündert. Wasserlachen standen in ausgewaschenen Steinmulden. An ihren Rändern lagen Frauen, Männer und Kinder. Sie leckten jeden Tropfen auf, während sie mit den Fingern nach Reis und Kornresten auf dem Boden grapschten ...
Als König Llewellyn Corvay in die Seitenhöhle des Kathedralenturms kam, war bereits alles vorbei.
»Was ist hier los?« fragte er streng.
Lello sprang über ein Mauerstück. Er nahm Mathilda von den Schandern in den Arm. Mit närrischen Tanzschritten kam er auf Corvay zu. Er lachte breit und dann sang er:
»Korn und Regen, Korn und Regen
sind für uns der größte Segen ...«
Llewellyn Corvay trat ins Licht der Fackel an der Wand. Er stach mit seinem Schwert in ein Stück Sackleinen. Mit der anderen Hand nahm er den Fetzen auf. Er drehte ihn nach allen Seiten, während seine Berater näher kamen. Einige von ihnen kauten noch verstohlen.
»Wie hast du das gefunden?« fragte Corvay Lello.
»Meinst du mich?«
»Mach keine Faxen, sonst lasse ich dich aus dem nächsten Mauerloch werfen!«
Lello zog den Kopf ein. Selbst Corvay hatte unter der langen Anstrengung gelitten. Er hatte längst nichts Königliches mehr an sich.
»Die Vorräte lagen einfach vor mir«, sagte Lello. »Ich wollte nur mal nachsehen, wie weit es bis zu den Treppen des Turms ist. Sie beginnen dort drüben ...«
Er deutete mit der ausgestreckten Hand auf ein dunkles Loch in der Mauer.
Corvays Berater zogen sich unwillkürlich zurück.
»Und?« fragte Corvay hastig. »Hast du irgend etwas gesehen?«
»Nur die Vorräte«, sagte Lello kleinlaut.
»Gibt es dort hinten noch mehr davon?«
»Ich weiß es nicht.«
»Los! Fünf Mann mit Waffen zu mir!« befahl Corvay. Er blickte Lello in die Augen, dann spuckte er auf den Boden. Im Schatten der Fackeln drängten sich Dutzende von Schandern und Bankerts zusammen. Erst lange nach dem mühsamen Aufbruch hatten die Schander bemerkt, daß es auch im Gefolge der wüsten Kerle um König Corvay Frauen und Kinder gab. Sie litten nicht weniger als die Angehörigen des südlichen Sakriversum-Volkes.
Corvay ließ zwei Fackelträger vorausgehen. Er folgte ihnen in sicherem Abstand. Es waren nur wenige Schritte bis zur Haupttreppe im südlichen Turm. Der Mauerdurchbruch bildete eine natürlich wirkende Spalte zwischen den sauber behauenen Stufen und dem ungleich schwierigeren Geheimgang nach oben.
Sekundenlang blickte Corvay auf die Dächer der Stadt hinab. Er blinzelte ins Licht der Sonne, fühlte ihre Wärme und ärgerte sich gleichzeitig, daß er nicht eher versucht hatte, den direkten Weg zu nehmen ...
Im gleichen Augenblick grölten die beiden Fackelträger begeistert.
»Hier liegt noch mehr!« schrie der erste.
»Das reicht für alle, bis wir ins Sakriversum kommen!«
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