Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Schander in ihrem Bereich.
»Jeder soll soviel nehmen, wie er mit einer Hand tragen kann!«
Corvays Befehl drang durch den Mauerspalt bis in die tieferen Regionen des geheimen Fluchtweges. Er wirkte wie ein erlösendes Signal. Dicht nebeneinander wankten Schander und Bankerts aus der Dunkelheit. Einige stützten sich gegenseitig, andere warteten sogar, bis Frauen und Kinder in den lichten Bereich des Turms geklettert waren.
In unerwarteter Eintracht und Disziplin scharten sie sich um die Futterstelle. Es war, als wüßten sie, was dicht unterhalb des Sakriversums von ihnen erwartet wurde.
*
Die Häuser sahen noch genauso aus, wie sie verlassen worden waren. In der Hauptstraße hatte sich ebensowenig verändert wie in den schmalen Wegen zwischen den einzelnen Grundstücken oberhalb und unterhalb der Straße.
Trotzdem war alles anders.
»Es kommt kein Rauch mehr aus den Kaminen«, sagte Guntram.
»Aber es riecht nach Rauch ...«
Vor ihnen erstreckte sich die kleine Welt des südlichen Sakriversums im späten Licht der Abendsonne. Die Hügel vor dem Dorf und dahinter wirkten wie eine schräge Reihe gleichmäßig geformter Bodenwellen. Nach Norden hin ragte ein steiles, düsteres Gebirge auf, das die beiden gemeinen Welten unter dem Kathedralendach voneinander trennte.
Die Geschwister hatten die Arme umeinander gelegt. Sie sahen schweigend zu den Rebstöcken unterhalb der Zisternen, fühlten die eigenartige Stille unter dem schrägen Kathedralendach und empfanden plötzlich eine merkwürdige Scheu davor, einfach weiterzugehen.
Unterhalb der Rebstöcke zogen sich Felder bis zur Straße und führten beiderseits des Dorfes darüber hinweg bis in das feuchte Dunkel des Irrlichtmoors , das die tiefe südliche Begrenzung des Sakriversums bildete.
»Fünf Berge im Westen, vier Berge im Osten«, sagte Agnes leise. »Eichberg, Rübenberg, Erbsberg, Hirseberg und Kleeberg ...«
Guntram lächelte.
»Flachsberg, Weizenberg, Gerstenberg und Haferberg«, ergänzte er Agnes’ Aufzählung, die alle Schander schon als Kinder lernten. »Geht nie zu den Aasbergen, zum Kompostanger und zum Sammelgrund! Meidet die Höhlen in der Teufelsmauer und das Irrlichtmoor , in dem die dumpfen Nebel wallen!«
»Achtet das Buch-Heim , euer erstes Haus«, sagte Agnes leise.
»Verletzt die Linde nicht! Brecht keine Blumen und verjagt die Tiere in den Tälern nicht! Vermeidet, was euch fremd ist und werdet glücklich mit dem, was ihr habt!«
»Dies sagt euch Roland, der’s gebaut hat.«
Sie hatten in ihrer alten Sprache geredet. Die eigenartige Melodie der Worte paßte zum stillen Licht der untergehenden Sonne, deren letzte Strahlen noch immer durch Tausende von Beryllos-Linsen ins Sakriversum umgeleitet wurden.
Die Geschwister genossen den Frieden und die Harmonie ihrer kleinen Welt. Sie faßten sich an den Händen und konnten sich kaum sattsehen nach den langen Tagen der Dunkelheit in den Bleikellern der Kathedrale.
Guntram erinnerte sich noch genau an den schrecklichen Tag, an dem sie ihre Heimat verlassen hatten. In der Nacht davor hatte sich Regenwasser in den Zisternen unterhalb der Teufelsmauer gestaut. Ein Frühlingssturm war wie eine Schar kreischender Hexen über das Dach gefahren. Er hatte sich wild aufjaulend in den Fialtürmchen und den aufgerissenen Mündern der Wasserspeier ausgetobt.
Vom nackten Stein oberhalb der Weingärten war eine Gerölllawine bis zum Dorfplatz gepoltert. Sie hatte Büsche ausgerissen, den Bach zum Überschäumen gebracht und Meister Albrecht am Knie verletzt.
Der alte Albrecht war schon immer ein Sonderling gewesen. Als einziger lebte er ohne Familie außerhalb des Dorfes. Er galt als Einsiedler, Herrgottschnitzer und Hüter von Buch-Heim. Seit vielen Jahren kam er nur am Samstag aus seiner Klause an der Teufelsmauer, um unten im Dorf Lebensmittel zu holen und eine Nacht im Buch-Heim zu verbringen. In diesen Nächten gingen die Clan-Chefs zu ihm und sprachen über alles, was in der Woche vorgefallen war.
»Hast du eigentlich Meister Albrecht unten gesehen?« fragte Guntram seine Schwester. Sie hob die Brauen, dachte kurz nach und schüttelte den Kopf.
»Er muß hiergeblieben sein ...«
Guntram nickte.
»Er hatte sich am Knie verletzt. Aber wenn er hierbleiben konnte, warum mußten wir dann fliehen?«
Er legte seine Hand über die Augen. Im weichen, vielfach verstärkten Licht der untergehenden Sonne konnte er gerade noch das Haus von Meister Albrecht hoch über dem Dorf erkennen. Das
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