Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Volk gemein hatten. Erst in der zehnten Generation kam es über eine Seitenlinie zu einer entfernten Verwandtschaft, als Heinrich VII. Elisabeth von York heiratete und sich fortan Tudor nannte.
Ihr Sohn, Heinrich VIII., hatte nicht nur eine eigenwillige Einstellung seinen Frauen gegenüber, sondern erhielt auch für seine Schrift gegen Martin Luther den päpstlichen Titel Verteidiger des Glaubens. Das hinderte ihn aber nicht daran, eine eigene Kirche zu gründen und den Besitz der römischen Kirche einzuziehen ...
In diesen Jahren hätten die Päpste noch einmal die Chance gehabt, den Einfluß zurückzugewinnen, den sie nach den Kreuzzügen verloren hatten. Statt dessen kümmerten sie sich um die Verbrennung von Büchern gegen die Kirchenautorität, den Ablaßhandel und die Verteufelung der Reformation.
Gleichzeitig begannen die Bauernkriege, der Orden der Johanniter wurde durch die Türken von Rhodos nach Malta vertrieben, Paracelsus schuf ein neues wissenschaftliches Weltbild und in der Provence wurde Michel de Notre Dame geboren.
Sein Vater war ein bekannter Gelehrter, Astrologe und Angehöriger einer Asketensekte. Von ihm erfuhr Nostradamus mehr als bei seinem Studium in Avignon und während seiner zehnjährigen Wanderschaft. Einen Teil dieser Informationen schrieb Nostradamus nach seinem Wirken als erfolgreicher Pestarzt in verschlüsselter Form nieder. Das geheime Wissen der Tempelherren mußte ihn dabei ebenso beeinflußt haben wie die Tatsache, daß sie rund zweihundert Jahre vorher durch den Sohn von Llywellyn ap Gruffydd, dem letzten gebürtigen Prince of Wales , der Inquisition zum Opfer gefallen waren ...
*
Llewellyn Corvay schreckte aus seinem Tagtraum hoch. Er spürte den heißen Atem seiner Berater im Nacken. Nur einige stammten von der Nordseite des Sakriversums. Die anderen hatte er aufgelesen ...
Seine Finger glitten über die Kette, die er sich zum Zeichen seiner neuen Macht umgehängt hatte. Die meisten seiner Anhänger wußten nichts von mittelalterlichen Bräuchen. Sie waren ihm gefolgt, weil er ihnen einen Ausweg aus ihrer jämmerlichen Existenz angeboten hatte. In seinem bunt zusammengewürfelten Gefolge befanden sich Klippschüler und Dummköpfe, Akademiker und Abenteurer, wie sie überall zu finden waren, wo etwas passierte.
»Warum geht es nicht weiter?« fragte Corvays Berater aus dem nördlichen Teil des Sakriversums.
»Das verstehst du nicht, Galus«, sagte Lello und lachte meckernd. Er hatte sich bis ins Sonnenlicht vorgedrängt. Der kleine alte Mann legte seine Finger an die Schläfen. Es sah aus, als würde er seinen großen Kopf stützen.
»Wir haben Hunger!« schrie eine junge Frau.
»Die Kinder dürsten!«
»Laßt uns die Sonne wieder sehen ...«
Corvay drehte sich um und hob die Arme.
»Wir können nicht hinaus!« rief er. »Seht doch den roten Staub!« »Radioaktiv«, sagte Galus und nickte. »Aber für den kurzen Weg nach oben weniger gefährlich als der Geheimgang ...«
»Hunger!« schrien die in der Dunkelheit.
»Das hier würde für alle reichen«, sagte Galus.
»Nein!«
Corvay riß eine golden glänzende Münze von seiner Halskette. Er ließ ein Scharnier aufschnappen. Mit ausgestreckten Armen näherte er sich wie ein Magier dem Vorratsstapel.
Er wartete darauf, daß sich das kleine Strahlendosimeter schwarz färbte. Gleichzeitig holte er einen Geigerzähler aus seinem Wams.
»Nun, Galus?« rief er, als das Knattern aus dem Geigerzähler immer lauter wurde.
Galus legte zwei Finger an seine Nase.
»Nicht korrekt!« sagte er. »Der Film im Strahlendosimeter wird nicht schwarz über den Vorräten, und was wir aus dem Geigerzähler hören, stammt vom Staub, der hier schon länger liegt!«
Llewellyn Corvay wurde rot. Die Adern an seinen Schläfen schwollen an.
»Dann kommt doch raus, verdammt noch mal! Freßt Staub, der euch die Eingeweide verbrennen wird! Vergeßt das Sakriversum und geht nach unten, wo die Weltlichen satte Vorratslager gehortet haben! Bringt euch doch um, wie sie’s getan haben!«
Er warf sein Kurzschwert über die Stufen der Turmtreppe. Laut klirrend glitt es immer tiefer. Während die Hinteren noch nachdrängten, stockten die ersten Reihen. Schander und Bankerts prallten gegeneinander. Viele von ihnen wollten einfach nur ans Licht.
»Nun gut«, lenkte König Corvay ein. Er sah kurz zu Galus hinüber. Der Arzt war ein Genie aus dem nördlichen Teil des Sakriversums. Er hatte dort ebensoviel Einfluß gehabt wie die Clan-Chefs der
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