Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
ergänzte der andere lachend.
Corvay biß die Zähne zusammen. Er war stets ein mißtrauischer Fuchs gewesen. Die Nachricht vom Fund neuer Lebensmittel pflanzte sich wie ein Lauffeuer bis in die dunklen Spalten fort. Aus den Tiefen des Geheimgangs, der für alle längst zu einem bösen Alptraum geworden war, brandete ein Chor von dumpfen Schreien nach oben. Verzweiflung und Angst mischten sich mit Hoffnungen und Anzeichen von neuem Lebenswillen.
Corvay ahnte, was eine Panik jetzt bedeuten konnte. Schneller als seine Begleiter erfaßte er die Gefahr. Sein Verstand funktionierte wie ein Computer. Er mußte einen Weg finden, die nachdrängenden Massen aufzuhalten. Mit Waffen allein war da nichts mehr zu machen. Er wußte nicht einmal, ob er sich noch auf seine eigenen Männer verlassen konnte. Söldner waren stets auf Beute ausgewesen. Wenn er ihnen die verbot, würden sich einige von ihnen mit tödlicher Sicherheit gegen ihn wenden!
Er blickte nach oben. Die Kapitelle an den Bogenöffnungen der schmalen Turmfenster waren mit rötlichem Staub bedeckt. Auch das gewaltige Bleidach der Kathedrale leuchtete rostrot im Sonnenlicht. Staub! Überall Staub - nur auf den großen Säcken und Beuteln nicht!
Llewellyn Corvay trat einen Schritt zur Seite. Im gleichen Augenblick wurde ihm klar, daß die Vorräte nach der Katastrophe in den Turm gebracht worden sein mußten, denn auf den Säcken war keinerlei Staub zu sehen ...
Und dann entdeckte er die großen Fußspuren auf den Stufen.
Die anderen hatten noch nichts bemerkt. Corvay schob sich wie zufällig bis zum Rand des Mauerspalts. Zwei Trittspuren führten weiter nach oben, zwei weitere endeten dort, wo die Vorräte lagen.
Das ließ nur einen Schluß zu: jemand, der die Katastrophe überlebt hatte, war zweimal in den Turm gestiegen! Einmal, um sich über den Zustand der Stadt von oben aus zu informieren. Und dann nochmals, um Vorräte zu bringen ...
Aber warum?
Corvay bewegte mahlend seine Zähne. Hinter ihm versuchten seine Anhänger, die schreiend Nachdrängenden aufzuhalten. Die ersten Waffen klirrten. In diesem Augenblick verwünschte Corvay seine Idee, zusammen mit den Schandern ins Sakriversum zurückzukehren. Er hätte es auch einfacher haben können, aber sein Hang für theatralische Auftritte hatte ihn blind gemacht.
Warum, zum Teufel, hatte er nicht den direkten Weg genommen? Es wäre leicht für ihn gewesen, zusammen mit seinen Leuten über die Treppe eines Kathedralenturms an einem Tag bis zum Dach zu kommen.
Aber nein, er hatte ihnen einreden müssen, daß draußen alles verseucht war! Er hatte sie davon überzeugt, daß sie nur zusammen mit dem Volk der Schander die fruchtbare Seite des Sakriversums zu einem neuen Lebensraum für alle machen konnten ...
Corvay erkannte, wie schwach seine Position plötzlich geworden war. Seit er wußte, daß nicht alle Bankerts von der Nordseite des Sakriversums Nachkommen von namenlosen Findelkindern waren, hatte er versucht, mehr über ihre wahre Herkunft herauszufinden.
Die wesentlichsten Hinweise hatte er durch eine junge Weltliche erhalten, deren Vater sich Zeit seines Lebens mit Ahnen-Forschung befaßt hatte. Während seiner Zeit in Amerika war er außerdem auf die Mormonen-Archive gestoßen, in denen Millionen von posthum Getauften registriert worden waren.
Die dritte Quelle bildete seine Hälfte des Testaments ...
Er lachte grimmig, als er an die Nächte mit Luise Henriette zurückdachte. Von sich aus wäre er nie auf die Idee gekommen, daß es tatsächlich Ladys mit einem Schoßhündchen-Komplex gab. Vielleicht war er deshalb so aufregend für sie gewesen ...
Jedenfalls hatte sie ihm einige noch fehlende Hinweise auf seine Herkunft verschafft. Und die waren für ihn fast noch wichtiger als das Testament des Kathedralen-Baumeisters ...
*
Im Jahre 1301, ein Jahr bevor Papst Bonifatius VIII. den alleinigen Machtanspruch der Kirche durch die Bulle Unam sanctam durchzusetzen versuchte, ernannte Edward I. von England seinen gleichnamigen Sohn offiziell zum ersten Prince of Wales.
Edward, der 1284 auf Schloß Caernarvon, dem gerade erst eroberten Stammsitz der Könige von Wales, geboren war, galt seither als Ahnherr einer langen Reihe Königlicher Hoheiten, die sich bis ins England des einundzwanzigsten Jahrhunderts fortsetzten.
Lange Zeit glaubten die Engländer, daß sie das walisische Königshaus vernichtet hätten. Niemand machte ihnen den Titel Prince of Wales streitig, obwohl sie kaum etwas mit diesem
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