Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Michel noch nie gesehen. Die Stadt, die da am Ufer der Mosel lag, war mindestens zehnmal so groß wie Fleury. Kirchen und Häuser, viele aus Stein und mit zwei oder drei Stockwerken, standen dicht an dicht; ihre spitzen Dächer und Kamine ragten so hoch empor, als strebten sie dem Himmel entgegen.
»Guiscard wird schon hier sein«, sagte sein Vater. »Vermutlich wartet er bei den Toren auf uns. Wir müssen einen anderen Weg hinein finden.«
Schon von Weitem hatte Michel gesehen, dass die Stadtmauern alt, brüchig und heruntergekommen waren. Einer der Türme war teilweise eingestürzt, und über dem Trümmerhaufen klaffte eine Spalte im Wall, durch die ein Ochsenwagen gepasst hätte. Sie verbargen sich hinter einem windschiefen Schuppen, der zu einem verlassenen Bauernhaus gehörte. Als ihr Vater sicher war, dass niemand sie beobachtete, kletterten sie über den Schutt und schlüpften durch die Mauerbresche.
Michel schlug das Herz bis zum Hals. Sie hatten es geschafft – sie waren in Varennes!
Die Gasse, in der sie sich befanden, verlief an der Innenseite der Wehrmauer. Die Hütten, die sie säumten, sahen nicht viel anders aus als die Bauernkaten Fleurys: klein, fensterlos, mit Wänden aus Holz oder Bruchsteinen und Dächern aus Stroh. Schweine, Gänse und Hühner suchten in den engen Höfen und Gemüsegärten nach Futter.
»Haltet die Augen offen«, sagte ihr Vater. »Denkt daran, wir sind erst in Sicherheit, wenn Guiscard die Stadt verlassen hat. Suchen wir uns einen Gasthof, wo wir uns aufwärmen können.«
Sie gelangten in eine breite Straße, in der es vor Menschen nur so wimmelte. Schmiede, Zimmerleute und Schuster gingen in den Werkstätten ihrer Arbeit nach, hämmerten, sägten, schnitten Leder zurecht und brüllten ihre Gesellen an. Ein Mann schob einen Karren mit Feuerholz und fluchte gotteslästerlich, als er in einem Schlagloch stecken blieb. Vor einer Garküche tranken zwei rotgesichtige Mönche dampfenden Würzwein und unterhielten sich angeregt über die Sonntagspredigt des Bischofs. Den Schnee hatte man weggeräumt; er bildete schmutzig braune Haufen in Ecken und Winkeln.
Der Gestank raubte Michel schier den Atem. Es roch nach Rauch, Exkrementen, fauligem Gemüse. Zwei Häuser weiter öffnete eine Frau ein Fenster und goss den Inhalt ihres Nachttopfs auf die Straße. Ein Herr in feinen Kleidern wurde beinahe getroffen und schüttelte wütend seine Faust.
Michel hatte erwartet, dass die Bewohner Varennes’ alle wie Herr Caron aussehen würden, der immerzu ein edles Gewand in leuchtenden Farben, Stiefel aus Wildleder und elegante Hüte trug. Dies war jedoch nicht der Fall – die meisten Bürger kleideten sich wie die Bauern Fleurys und hatten schlichte Kittel, Beinlinge und Ledermützen an. Michel, sein Vater und seine Geschwister fielen daher nicht auf, als sie sich unter die Leute mischten.
Bei den beiden trinkfreudigen Mönchen erkundigte sich ihr Vater nach einem Gasthof.
»Die meisten Herbergen und Schenken sind bei den Stadttoren«, antwortete einer der Brüder. »Am besten geht ihr zum Salztor, dort gibt es die günstigsten Quartiere.«
Ihr Vater runzelte die Stirn. »Und anderswo, zum Beispiel am Marktplatz?«
»Neben der Münze steht auch eine. Nicht ganz billig, aber gut. Einfach die Straße hinunter und dann rechts – ihr könnt es nicht verfehlen. Der Herr sei mit euch!« Der Mönch prostete ihnen zum Abschied zu.
Der Marktplatz war nur einen Steinwurf entfernt. Er erstreckte sich vor der größten Kirche, die Michel je gesehen hatte, dem Dom von Varennes. Mehrstöckige Stein- und Fachwerkhäuser umgaben ihn. Der Platz selbst war übersät von zahlreichen Buden, Zelten und Verkaufsständen, die ein steinernes Marktkreuz überragte. Bauern und Händler boten dort trotz Eis und Schnee ihre Waren feil, und die kalte Luft war erfüllt von ihrem Geschrei. Auf den Tischen lagen Werkzeuge, geschliffene Messer und Tongeschirr aus, daneben Käseräder, geräucherte Fische, Kleider in allen Farben und Formen. Kapaune und pralle Würste hingen an eisernen Haken, aus Fässern sprudelte Wein und Bier. Kunden, wie die Verkäufer in dicke Umhänge gehüllt, schlenderten an den Ständen vorbei, begutachteten die Auslagen und feilschten um Preise. In aufeinandergestapelten Holzkäfigen gackerten Hühner und schnatterten Gänse; für die größeren Tiere gab es Gehege, in denen sich Schweine, Schafe und Rinder drängten. Tausend Düfte und Eindrücke stürzten auf Michel ein – er wusste
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