Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Wirtshaus quoll schier über vor Menschen. Die Leute standen sogar schon auf der Straße und drängten sich an den Fenstern, um einen Blick ins Innere zu erhaschen.
Michel wandte sich an einen Schusterlehrling. »Was ist da drinnen los?«
»Pater Mercadier hat einen Brief bekommen«, antwortete der Junge aufgeregt. »Von seinem Bruder Girard, der mit Raymond Fabre das Kreuz genommen hat.«
Michel reckte den Kopf und konnte Mercadier erkennen, der an einem der Tische saß und der Menge den Brief vorlas. Leider war es viel zu laut, um etwas zu verstehen. Er fuhr die Ellbogen aus und bahnte sich einen Weg ins Innere der Schenke, wo der Pater soeben fertig mit Vorlesen war. »Darf ich den Brief sehen?«
»Gewiss.«
Michel kannte Girard flüchtig. Anders als sein älterer Bruder hatte der Sohn verarmter Ritter keine kirchliche Laufbahn eingeschlagen, sondern die letzten Jahre damit zugebracht, sein Erbe zu verprassen. Wie viele Teilnehmer des Kreuzzugs war er ein Tunichtgut, ein Abenteurer, der in der Fremde sein Glück suchte.
Das Pergament seines Briefes war fleckig und an den Rändern eingerissen; man sah ihm jede Wegstunde der weiten Reise an, die es zurückgelegt hatte. Die Nachricht war vier Monate alt – oben hatte Girard »Juni im Jahre 1189 a.D.« notiert.
Und das schrieb der junge Kreuzfahrer:
Geliebter Bruder – die ersten Wochen unseres Marsches waren sehr hart. Doch nun finde ich endlich die Zeit, Dir zu schreiben, wie ich es versprochen habe. Gerade sitze ich im Lager, das wir für die Nacht aufgeschlagen haben. Du solltest es sehen – Zelte und Herdfeuer, so weit das Auge reicht. Kaiser Friedrich hat die gewaltigste Streitmacht aufgestellt, die jemals durch das Abendland gezogen ist. Wir werden Sultan Saladin und seine Sarazenen im Handstreich zerschmettern.
Aber noch ist es ein weiter Weg bis ins Heilige Land. Wir sind erst in Ungarn, und in wenigen Tagen werden wir die Donau überqueren und durch Serbien marschieren. Raymond Fabre, der jeden Tag mit den hohen Herren um Barbarossa spricht, sagt, dass uns jenseits der Donau Ärger erwartet. Es gibt Gerüchte von serbischen und bulgarischen Räubern. Wenn wir Pech haben, werden wir also kämpfen müssen, lange bevor wir die ersten Sarazenen treffen. Auch die Byzantiner, die über Serbien herrschen, sind uns nicht freundlich gesinnt. Es heißt, sie misstrauen unserem Kaiser und werden versuchen, ihn zu behindern. Aber ich bin zuversichtlich, dass Barbarossa all diese Gefahren mit Leichtigkeit meistern wird. Er ist wahrlich ein großer Mann und ein kluger Anführer, und ich würde ihm bis zu den Pforten der Hölle folgen.
Ich hoffe, Du sorgst dich nicht um mich. Sei versichert, es geht mir gut. Dieser Kreuzzug ist Gottes Wille, und der Herr hält immerzu seine schützende Hand über uns.
Ich hoffe, auch Dir geht es gut. Sooft ich kann, bitte ich die Erzengel und den heiligen Jacques, Dich vor Unglück und Krankheit zu bewahren.
Bitte bestelle all unseren Nachbarn und Freunden meine Grüße. Ich versuche, Dir bald wieder einen Brief zu schicken. Wer weiß, vielleicht schreibe ich Dir schon das nächste Mal vom Tempelberg in Jerusalem. – Girard
»Ist das alles?«, wandte sich Michel an Pater Mercadier. »Hat Euer Bruder noch mehr geschrieben?«
»Nein, tut mir leid, das ist alles«, erwiderte der Priester. Michel gab ihm den Brief zurück, und Mercadier kam der Aufforderung der Menge nach, ihn noch einmal vorzulesen.
Michel nahm die lauten Stimmen um ihn herum kaum wahr. Kein Wort von Jean. Dabei hatte er so sehr gehofft, Girard würde seinen Bruder wenigstens einmal erwähnen, damit er endlich erfuhr, wie es Jean ging und ob er wohlauf war. Stattdessen schrieb Girard von Räuberbanden und intriganten Byzantinern, sodass Michel mehr denn je um das Leben seines Bruders fürchtete.
Bitte, heiliger Jacques, murmelte er stumm, beschütze ihn auf seinem Weg.
Duval beherzigte Michels Rat. Gegen Abend gingen Melville, Catherine, Le Roux und er zu Gaspard, in der Hoffnung, ihn mit vereinten Kräften zur Vernunft zu bringen. Das Gespräch war so kurz wie unerfreulich. Gaspard weigerte sich, ihnen zuzuhören und nannte sie obendrein »Michels Speichellecker«.
»Ich werde nicht den Schwanz einziehen, bloß weil ein Haufen verängstigter Feiglinge vor dem Bischof zittert«, teilte er ihnen mit. »Wenn Géroux mir und meinen Freunden schadet, schlage ich zurück, so hart ich kann. Wenn ihr auch nur einen Funken Ehre im Leib hättet, würdet ihr das
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