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Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Wolf
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Michel. So ist es am vernünftigsten.«
    »Also bleibst du hier, ich in Varennes, einmal im Monat schreiben wir uns, und gelegentlich treffen wir uns an dieser Quelle? Das ist doch kein Leben.«
    »Wir können es nicht ändern. Gott wird uns irgendwann einen Weg zeigen, da bin ich sicher«, fügte sie hinzu.
    »Wann hat sich Gott uns je offenbart, außer, um uns zu strafen?«
    »Rede nicht so. Du weißt, dass das nicht wahr ist. Immerhin hat er uns zusammengeführt. Und er hat uns Rémy geschenkt.«
    Just in diesem Moment begann der Junge zu strampeln. Michel spürte, dass er zu seiner Mutter wollte. Er übergab ihn Isabelle, die ihn auf ihren Schoß bettete.
    »Hab Vertrauen.« Mit der freien Hand griff sie an ihren Gürtel und zog ein kleines Silberkreuz hervor. »Erinnerst du dich daran?« Es war das Kruzifix, das er ihr einst geschenkt hatte, vor langer Zeit, in einem anderen Leben. »Ich trage es immer bei mir. Es hat mir geholfen, nie die Hoffnung zu verlieren. Jetzt soll es dir helfen.«
    Er nahm das Kreuz, es lag auf seiner Hand und gleißte trotz der zahllosen Schrammen und Kratzer im Sonnenlicht.
    Michel schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter, schaute zu den Hügeln in der Ferne und hatte plötzlich den Wunsch, aufzustehen und einfach loszugehen, immer weiter und weiter, bis zum Horizont und darüber hinaus.

D RITTES B UCH

    Nix cruenta
    März 1191
bis November 1193

März 1191

    V ARENNES -S AINT -J ACQUES
    D ie Klosterglocken begannen zu läuten, als Michel mit gesenktem Haupt über die Kanalbrücke eilte. Wie immer machte die Abtei Longchamp den Anfang, dicht gefolgt von Saint-Julien-le-Pauvre. Danach schlossen sich ihnen Saint-Denis und zu guter Letzt Notre-Dame-des-Champs an, woraufhin ihr Geläut ganz Varennes erfüllte. Die Glocken riefen zur Vesper, zum Abendgebet, das das Tagwerk beendete. Just in diesem Moment begaben sich die Brüder aller vier Stifte zur Kapelle, wo sie, geschützt vor Wind und Wetter, in behaglicher Gemeinschaft ihren Lobgesang anstimmen würden.
    Michel beneidete die Mönche von Herzen. Es war ein äußerst ungemütlicher Abend, bei dem jeder, der bei Verstand war, zu Hause blieb und sich am Herdfeuer wärmte. Eisiger Regen klatschte gegen Mauern und Dächer, Fackeln an den Hoftoren zischten und erloschen, und die Rinne in der Straßenmitte verwandelte sich in einen reißenden Strom, der Schlamm, Tierkot und Abfall davonspülte. Michel trug zwei Schichten Kleidung und darüber seinen dicksten Wollmantel, und trotzdem drang ihm die klamme Nässe bis auf die Haut, sodass er bald am ganzen Leib schlotterte. Dies war kein milder Frühlingsschauer – es war ein kalter, böser Sturmregen, der die Menschen des Moseltals daran erinnerte, dass der Winter trotz der Schneeschmelze noch nicht überstanden war.
    Die Wassermassen hatten den Lehmboden aufgeweicht und die Gassen der Unterstadt binnen einer halben Stunde in unberechenbare Schlammlandschaften verwandelt. Als Michel die Straße überquerte, trat er in ein tiefes Schlagloch, woraufhin ihm die eisige Brühe in den Stiefel sickerte. »Scheißdreck«, murmelte er im Schatten seiner Kapuze und erwog für einen Moment, auf dem Absatz kehrtzumachen und nach Hause zu gehen. Doch er ignorierte das Schmatzen in seinem Stiefel und zwang sich, an den Becher heißen Würzwein zu denken, der im Les Trois Frères auf ihn wartete, während er an den ärmlichen Hütten vorbeieilte.
    Über den Dächern, kaum zu erkennen hinter all den Regenschleiern, klammerten sich Baugerüste an die Stadtmauer, ein Gewirr aus Balken, Leitern, Seilen, Laufstegen und Lastenaufzügen. Archidiakon Guillaume, der Varennes in Erzbischof Johanns Namen verwaltete, hatte im vergangenen Herbst endlich damit begonnen, die löchrige Wehrmauer zu erneuern. Weit waren die Arbeiten noch nicht gediehen, denn während des harten und schneereichen Winters waren sie kaum vorangekommen. Auch jetzt waren die Gerüste verlassen. Als der Himmel seine Schleusen öffnete, hatten sämtliche Maurer, Steinmetze und Lastenträger die Baustelle verlassen und in ihren Unterständen am Fischmarkt Zuflucht gesucht. Michel hatte gesehen, wie sie sich um die Kohlenpfannen versammelten.
    Er huschte unter den vorspringenden Dächern entlang, bis er endlich zum Les Trois Frères kam. Im Innern der schäbigen Schenke war es wie immer dunkel und stickig vor Rauch und fauligen Binsen, doch da es außerdem warm und trocken war, kümmerte sich Michel nicht um den Gestank. Dankbar schlug er seine

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