Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
waren das Einzige, was sie jetzt noch hatte.
Aber war das nicht eine ganze Menge?
Michel galoppierte über das Land, er preschte die Straße entlang, bis er alles vergaß, bis sein Kopf leer war und er nur noch den Wind im Gesicht spürte und die Muskeln des Hengstes, die sich unter ihm hoben und senkten. Erst als die Mauern und Türme von Speyer in Sicht kamen, ritt er langsamer. Er schaffte es gerade noch, das Tor zu durchqueren, bevor es für die Nacht schloss. Langsam trabte er zu der Herberge, in der Jean und er Quartier bezogen hatten, übergab sein Pferd den Knechten und atmete die kühle Abendluft ein, bevor er nach oben zu den Schlafräumen ging.
Jean saß auf einer Bettstatt, zog einen Wetzstein über die Klinge seines Messers und begutachtete im Licht des Kienspans seine Arbeit. Als Michel hereinkam, schaute er auf.
»Du hattest recht«, sagte Michel. »Für Isabelle und mich gibt es keine Zukunft. Ich wollte das nicht sehen.«
Sein Bruder schaute ihn lange an. Dann erhob er sich und klopfte ihm auf die Schulter. »Komm. Gehen wir etwas trinken.«
Mai bis Juni 1192
V ARENNES -S AINT -J ACQUES
S tell dich auf Scherereien ein«, raunte Michel seinem Bruder zu, als das Nordtor Varennes’ in Sicht kam. Und in der Tat, einer der Wächter, die dort Dienst taten, war der berüchtigte Joubert. Der Kerl war nicht nur hässlich wie die Nacht, sondern durch und durch boshaft. Seit Tancrède Martel ihn zum Stadtbüttel ernannt und ihm einen Waffenrock und eine Pike gegeben hatte, nutzte er seine Amtsgewalt weidlich aus, um andere zu tyrannisieren. Michel roch den Ärger hundert Ellen gegen den Wind.
Als hätte de Guillory geahnt, dass wir heute zurückkommen.
Joubert trat aus dem Schatten des Torhauses auf die Straße, und Jean hielt den Ochsen an. »Willkommen daheim, die Herren Kaufleute.« Der Wächter grinste breit und ließ dabei gelbe und schiefe Zähne sehen. »Was habt ihr auf dem Wagen?«
»Gold, Weihrauch und Myrrhe für das Jesuskind«, sagte Michel.
»Ich lach mich tot. Runter vom Wagen und die Fässer aufmachen, aber zackig.«
Sie öffneten die Bottiche und Kisten. Joubert warf einen Blick hinein.
»Was ist das für Zeug?«
»Tuche und Pelze«, antwortete Jean und spuckte aus.
»Das seh ich selbst. Ich meine das da.«
»Färberkrapp«, sagte Michel.
»Woher habt Ihr das?«
»Speyer.«
Joubert rieb sich die Nase, die mindestens zweimal gebrochen war und wie eine abgestorbene Wurzel in seinem hageren Gesicht saß. »Wartet hier. Ich hole den Zöllner.«
Joubert ließ sich Zeit. Der Zöllner, mit dem er schließlich zurückkam, trat ohne ein Wort des Grußes an den Wagen, besah sich die Waren und ritzte ihren Schätzwert in eine Wachstafel ein.
»Das macht fünfzehneinhalb Sous Einfuhrzoll«, erklärte er.
»Nein«, sagte Michel. »Das ist zu viel. Das akzeptieren wir nicht.«
»Ich rede mit Eurem Bruder«, erwiderte der Zöllner, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Er ist der Inhaber des Geschäfts.«
»Wir zahlen höchstens elf«, sagte Jean. »Das ist der übliche Satz.«
»Wo habt Ihr rechnen gelernt? Bei einem Warenwert von neunzehneinhalb Pfund macht das summa summarum …«
»Die Waren sind nur dreizehn Pfund wert«, widersprach Jean.
»Wenn ich sage, es sind neunzehneinhalb, dann sind es neunzehneinhalb«, schnappte der Zöllner. »Und jetzt zahlt, oder ich lasse Euch von Joubert abführen.«
Michel schüttelte kaum merklich den Kopf, als sein Bruder die Zähne zusammenbiss und die Rechte zur Faust ballte. Er öffnete seine Geldkatze und zählte dem Amtsmann die geforderte Summe in die Hand. Joubert stand daneben und grinste wölfisch.
»Einen schönen Tag noch, die Herren«, sagte er und tippte sich an den Helm, als sie durch das Tor fuhren.
Damit war der Ärger noch lange nicht ausgestanden. Als sie die Waren zwei Tage später zum Markt brachten, knöpften ihnen de Guillorys Marktaufseher horrende Standgebühren ab und zeigten sich taub für ihren Protest. Auch die Wechsler, bei denen sie einen Teil ihres auswärtigen Silbers umtauschten, baten sie zur Kasse und verlangten unverschämte Aufschläge für ihre Dienste. All das ließ ihren Gewinn aus der Handelsreise schmelzen, bis kaum noch etwas davon übrig war.
»Ich fürchte, da kommt noch mehr auf euch zu«, sagte Isoré Le Roux, der sie abends mit seinem Weib besuchte. »De Guillory hat nicht nur seine Büttel und Marktaufseher auf euch angesetzt. Als ihr fort wart, war sein Kettenhund Berengar bei allen
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