Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
gerade noch, den Fuß einzuziehen, bevor ein Wagenrad darüberrollte. Jean griff nach den Zügeln, doch es gelang ihm nicht, den Ochsen zu bändigen. Der Wagen schoss über die Brücke, kam vom Weg ab und rumpelte über das unebene Gelände. Als der Ochse einem Baum ausweichen wollte, schlug er einen Haken, woraufhin das Fuhrwerk erst gegen den Stamm prallte und dann umkippte. Jean und die beiden Söldner fielen herunter und purzelten über das Gras. Der Ochse schleifte den Wagen noch vier, fünf Ellen über den Boden, bevor er stehen blieb und wütend muhte.
Ein Salzfass rollte die Böschung hinab und kullerte in die Mosel. Dann noch eines und noch eines.
»Nein«, krächzte Michel, während er sich keuchend aufrappelte. Er bekam kaum Luft. Der Sturz hatte ihm sämtliche Luft aus der Lunge gepresst.
Jean sprang auf, als er das Unheil bemerkte. Er versuchte, die rutschenden Fässer festzuhalten, und wurde dabei fast von ihnen überrollt. Ein viertes versank im Wasser, bevor es ihm mit der Hilfe eines Söldners gelang, die übrigen zu sichern.
Der andere Söldner lief zu Michel und half ihm auf. Gemeinsam rannten sie zu Jean und dem zweiten Söldner. Rasch spannten sie den Ochsen aus, ehe er noch mehr Schaden anrichten konnte, und banden die verbliebenen Fässer zusammen. Michel blickte den Bottichen nach, die auf dem Fluss davontrieben. Es würde sehr schwer werden, sie zu bergen – davon abgesehen, wäre es die Mühe nicht wert. Wahrscheinlich war längst schmutziges Flusswasser eingedrungen und hatte das Salz verdorben.
»Diese Sauhunde!«, schrie Jean. »Schau dir das an!« Er berührte den Ochsen an der Gesäßbacke und hob die Hand: Sie war voller Blut. Mit zusammengebissenen Zähnen schritt er zu ihrem Fuhrwerk und zog seine Streitaxt unter dem Wagenbock hervor. »Dafür werden sie bezahlen.«
Auch die Söldner hatten ihre Schwerter gezogen. Michel wandte sich zur Brücke um. Die beiden Zöllner standen vor ihrem Verschlag; jeder hatte eine geladene Armbrust in den Händen und richtete sie auf Michel und seine Gefährten.
»Keinen Schritt weiter!«, brüllte einer der Männer. »Wenn ihr auch nur einen Fuß auf die Brücke setzt, verpassen wir euren Schädeln ein neues Loch.«
»Macht, dass ihr verschwindet!«, schrie der andere. »Na los!«
Jeans Gesicht glühte vor Zorn. Mit einem derben Fluch hieb er die Axt in den Boden.
Unter den Hohnrufen der Zöllner stellten sie ihren Wagen auf und luden die restlichen Salzfässer auf die Pritsche.
April 1192
V OGTEI A LTRIP
K aum erreichte Michel das Birkenwäldchen, fing es an zu regnen. Fluchend zog er seine Kapuze über und kanterte am Waldrand entlang, vorbei an den überwucherten Mauern der alten Hütte. Anfangs war es nur ein leichter Nieselregen, doch bald schon prasselten dicke Tropfen vom wolkenverhangenen Himmel. Bei der Quelle band er sein Pferd an und suchte sich eine einigermaßen trockene Stelle unter einem Baum mit ausladenden Ästen.
Er war zu früh dran, und Isabelle und Rémy waren noch nicht da – falls sie überhaupt kommen würden. Zwei Wochen vor ihrer Abreise aus Varennes hatte er ihr einen Brief geschickt, doch keine Antwort von ihr erhalten. Vielleicht war sie in den letzten Wochen nicht in Speyer gewesen und wusste gar nicht, dass er sie besuchen wollte.
Er setzte sich auf das Moos, breitete sich eine Wolldecke über Kopf und Schultern und lauschte dem Regen, während er wartete. Wenn Isabelle seine Nachricht bekommen hatte, würde sie jeden Tag zur Mittagsstunde zur Quelle gehen, mindestens eine Woche lang, da er nie genau sagen konnte, an welchem Tag er ankäme. Das war umständlich und mühsam und barg immerzu die Gefahr, dass sie sich verpassten, so wie im Winter. Eine der vielen Kleinigkeiten, die er an ihrem Arrangement hasste. Aber er konnte es nun einmal nicht ändern.
Er vertrieb sich die Zeit, indem er etwas Brot und Käse aß und an die Geschäfte dachte, die sie in Speyer gemacht hatten. Wenigstens war die Handelsreise einigermaßen lohnend gewesen. Sie hatten all ihr Salz verkauft und Beziehungen zur größten Kaufmannsgilde der Reichsstadt geknüpft. Wenn es ihnen gelingen sollte, eine dauerhafte Partnerschaft zu den Speyerer Kaufherren aufzubauen, würde das sein Leben merklich vereinfachen.
Zwei, drei Stunden vergingen.
Inzwischen war Mittag lange vorbei. Michel beschloss, bis zur None zu warten. Wenn Isabelle dann nicht käme, würde er nach Speyer zurückreiten.
Wenig später hörte es auf zu regnen.
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