Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
aber notwendigen Arbeit.
Nachdem Michel, Jean und ihre Hausbedienten mitgeholfen hatten, den Platz um den Hungerturm aufzuräumen, begannen sie, das Wasser aus ihrem Keller zu schöpfen. Zwei Tage lang wateten sie durch die stinkende Brühe und schleppten Eimer um Eimer zum Kanal der Unterstadt.
»Was ist mit dir?«, fragte Michel, als er Yves nach Stunden der Schinderei im Eingangsraum antraf. Der Hüne kauerte gekrümmt auf einer Kiste; er war bleich und verschwitzt.
»Ich weiß nicht, Herr. Mir tut höllisch der Bauch weh. Der Kopf auch.«
»Du hast zu viel gearbeitet. Geh nach oben und ruh dich aus.«
»Mach ich, Herr. Habt Dank.«
Als sie im Keller fertig waren, sah Michel nach Yves. Der Knecht hatte sich im Dachboden hingelegt und schlief unruhig. Fieberschweiß glänzte auf seiner Stirn. Michel warf einen Blick in den Nachttopf und erschrak: Yves hatte blutigen Durchfall bekommen.
»Bleib bei ihm und gib ihm zu trinken«, wies er Jean an. »Ich hole einen Medicus.«
Der Arzt, der wenig später neben Yves kniete, war derselbe, der einst Adrien in den Tod begleitet hatte – ein erfahrener und feinfühliger Mann, dem Michel blind vertraute.
»Er ist nicht der Einzige, der an diesem Fieber leidet«, sagte der Medicus, während er Yves’ Stirn abtupfte. »Man hört in der ganzen Stadt davon. Allein in diesem Viertel weiß ich von acht Fällen. Die Anzeichen sind immer dieselben: Schmerzen in Kopf und Magen, Hitze, Schweißausbrüche, Blutgang.«
»Was ist das für ein Fieber?«, fragte Michel.
»Die Rote Ruhr. Sie bricht häufig nach Überschwemmungen aus, weil das schmutzige Wasser in die Brunnen läuft und die Leute davon trinken. Sie verschont niemanden«, fügte der Medicus leise hinzu. »Weder Bischof noch Fürst.«
Michel bekreuzigte sich unwillkürlich. Er hatte von dieser Seuche gehört. Sie verhieß qualvollen und massenhaften Tod. In Mailand waren daran vor vielen Jahren einmal Tausende zugrunde gegangen.
»Könnt Ihr Yves kurieren?«, fragte Jean, der bei den Worten des Arztes blass geworden war.
»Ich fürchte, eine Behandlung ist schwierig. Er muss viel trinken und darf in den nächsten Tagen nur leicht Verdauliches zu sich nehmen – falls er überhaupt essen kann. Gebt ihm das gegen die Schmerzen und das gegen den Blutgang. Wenn sich sein Zustand nicht bessert, gebt ihm Rehblut zu trinken.«
Michel nahm die Phiolen mit den Arzneien entgegen und bezahlte den Medicus. Als der Heilkundige gegangen war, sagte Jean: »Ich muss sofort zu Adèle.« Er drückte Michels Hand. »Bete, dass Tolberts Hof von der Ruhr verschont bleibt.«
Als Jean in den Sattel stieg, versprach er, bis spätestens morgen früh wieder in Varennes zu sein. Michel bestand jedoch darauf, er solle bei Adèle und seinem ungeborenen Kind bleiben, bis die Seuche überstanden wäre. Nachdem sein Bruder fortgeritten war, ging Michel zurück zu Yves. Mit Louis wechselte er sich ab, die Nacht über am Lager des Hünen zu wachen.
Vielleicht lag es an den Kräuteressenzen, vielleicht auch an Yves’ Zähigkeit, dass sich sein Zustand langsam zu bessern schien. Am nächsten Tag wachte er auf, nicht mehr ganz so fiebrig und schwach, und fühlte sich in der Lage, etwas Suppe zu sich zu nehmen.
»Du stirbst mir nicht, hast du verstanden?«, raunte Michel ihm zu.
»Hab’s nicht vor, Herr«, meinte Yves und brachte ein Lächeln zustande.
Zwei weitere Tage verstrichen. Während Michel und Louis Yves pflegten, hörten sie immer neue Hiobsbotschaften aus der Stadt. Der Medicus berichtete von Dutzenden Kranken, später von Hunderten. Kaum eine Gasse, in der die Seuche nicht wütete.
Am Morgen des dritten Tages, als die Klosterglocken gerade zur Terz riefen, tauchte überraschend Pater Jodocus auf.
»Jaufré Géroux schickt mich«, sagte der Kleriker. »Er möchte dich sehen.«
»Géroux?«, wiederholte Michel barsch. »Was will er von mir?«
»Das wird er dir selbst sagen. Du solltest gehen«, fügte Jodocus hinzu. »Ich fürchte, er wird die nächsten Tage nicht überleben.«
Michel weckte Louis und bat ihn, sich um Yves zu kümmern, während er fort war. Verwirrt folgte er Pater Jodocus zu Géroux’ Haus am Domplatz, wo sie von einem übernächtigten Hörigen empfangen wurden. Der Mann führte sie hinauf zum Gemach des Münz- und Gildemeisters, in dem es roch wie in Yves’ Dachkammer: nach Kot, Blut, Schweiß – nach Krankheit und Verfall.
Michel hasste Géroux und hatte ihm manches Mal den Tod gewünscht, und doch
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