Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
mehr. Ich hoffe, es bleibt so. Noch einen Winter wie den letzten möchte ich nicht erleben.«
»Ich denke, wir müssen uns nicht um ihn sorgen. Er ist viel kräftiger als letztes Jahr. Er wächst ja schneller als eine junge Katze.«
»Ja.«
Sie schwiegen. Sie schwiegen lange.
Als Isabelle es nicht mehr ertrug, beugte sie sich vor, rupfte etwas Moos aus, nahm einen Klumpen feuchter Erde in die Hand und formte daraus eine Kugel.
»Was wird das?«, fragte Michel.
»Das wirst du gleich sehen.« Isabelle stand auf. »Könntest du Rémy herunterlassen?«
Er setzte den Jungen ab. Sie warf den Erdklumpen und traf Michel mitten auf die Brust. Er hob die Schultern, drehte die Handflächen nach oben und blickte an sich herunter, bevor er sie entgeistert anstarrte. »Warum?«, brachte er hervor.
»Das ist meine Rache«, sagte Isabelle und formte einen neuen Klumpen.
»Wofür, bei allen Dämonen?«
»Dass Gaspard und du Pferdeäpfel nach mir geworfen habt, als wir Kinder waren.«
»Wa…? Das ist nicht wahr!«, empörte er sich. » Du hast Pferdeäpfel nach uns geworfen!«
»Habe ich nicht.«
»Hast du wohl. Ich kann mich genau daran erinnern, als wäre es gestern …«
Ihr neuer Klumpen traf ihn an der Schulter.
»Wofür war das?«, rief Michel.
»Einfach so«, erklärte sie grinsend.
»Na warte. Das zahle ich dir heim.« Er machte eine Erdkugel, verfehlte sie jedoch weit, während Isabelles dritter Klumpen ihn am Hosenbein traf. Wenig später tobte vor der Hütte eine wüste Schlacht, lachend bewarfen sie einander mit Schlamm, Rémy kreischte vor Vergnügen, und niemand dachte mehr an das quälende Schweigen. Als sie später am Bach knieten und sich den Schmutz abwuschen, plauderten und scherzten sie miteinander wie alte Freunde.
Wir haben noch einen langen Weg vor uns, dachte Isabelle.
Aber der erste Schritt war getan.
Dezember 1192 bis Februar 1193
V ARENNES -S AINT -J ACQUES
D er Winter kam spät in diesem Jahr, sodass Jean und Michel bis kurz vor Weihnachten Handel treiben konnten. Als sich das Wetter schließlich verschlechterte und eine dicke Schneeschicht das Moseltal überzog, verstauten sie den Wagen im Schuppen und richteten sich auf geruhsame Wochen vor dem Kaminfeuer ein.
Jean kümmerte sich von früh bis spät um Adèle, die immer dicker wurde. Er besorgte mehrere Amulette, die sie vor Krankheiten, Hauskobolden und bösen Mächten schützten, und befestigte sie am Bett und über den Türen. Außerdem bat er Peirona, die Kräuterfrau und Hebamme, die er sehr schätzte, einmal in der Woche nach ihr zu sehen. Peirona sagte, unter normalen Umständen werde das Kind zwischen Palmsonntag und Ostern zur Welt kommen. Jean konnte es kaum erwarten. Er wünschte sich sehnlichst einen Sohn, wenngleich er Adèle versicherte, es sei ihm einerlei, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen zur Welt brächte. Ich werde ihn Bruno nennen, dachte er eines Nachts, während er versonnen mit seinem Nazar spielte. Dieser Name hatte ihm schon immer gefallen. Oder Raymond, in Gedenken an den großen Raymond Fabre, der einst die Kreuzfahrer Varennes’ nach Kleinasien geführt und sein Leben für die Christenheit geopfert hatte. Raymond ist besser, dachte Jean, bevor ihm die Augen zufielen.
Während er der Geburt ihres Kindes entgegenfieberte, geschah etwas, das sich noch nie in Oberlothringen ereignet hatte. Es begann damit, dass sich Ende Februar schlagartig das Wetter änderte. Ein seltsamer warmer Wind kam auf, der zahllosen Leuten in der Stadt Kopfschmerzen und eine Ahnung dräuenden Unheils bescherte. Allerorten rief man den heiligen Petrus um Beistand an, doch es wurde noch schlimmer: Am nächsten Tag verfärbte sich der Himmel, bis er am frühen Abend zwischen den Vogesen und dem westlichen Moseltal wie Kupfer und Rost aussah. Angst griff um sich, und die Menschen strömten in die Kirchen, wo sie um Vergebung ihrer Sünden beteten.
Auch Jean packte die Furcht, als er im Dachgeschoss am Fenster stand und das rostrote Firmament betrachtete. In seiner Hand hielt er das Nazar , und er umklammerte es so fest, dass die Kanten der gläsernen Scheibe in seine Haut schnitten.
»Ich habe von diesem phaenomenon gehört«, sagte Michel, der zu ihm trat. »In Mailand hat mir ein sizilianischer Kaufmann davon erzählt. Das ist Wüstenstaub, den der Wind von Süden heranweht. Nichts, wovor man Angst haben muss.«
Jean streifte ihn mit einem Blick, ehe er sich wieder dem Himmel zuwandte. Für alles hatte sein Bruder eine
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