Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
fallen ließ und sich die Hände an seinem Wams abwischte, ertönten Fanfarenstöße.
Die Königswahl begann.
In der letzten halben Stunde hatte sich der Platz zwischen den Zelten gefüllt. Dank seiner außergewöhnlichen Größe gelang es Aristide mühelos, über das Gedränge hinwegzublicken. Die Edlen bildeten eine Gasse, durch die Otto von Braunschweig schritt, gefolgt von seinen Schildknappen, Dienern und Priestern. Der Welfe war blutjung, gerade einmal dreiundzwanzig Sommer alt, doch davon abgesehen bot er durchaus einen königlichen Anblick. Seine purpurnen Gewänder waren mit Gold durchwirkt, Rubine glitzerten an seinem Schwertknauf, und ein eleganter Reif hielt das schulterlange Haar zurück. Ehrfürchtige Stille herrschte, als er auf dem Thron unter dem Baldachin Platz nahm.
Dies war die erste Königswahl, der Aristide beiwohnte, doch er wusste, dass es sich dabei im Grunde nur um eine Formalität handelte. Dass Otto Gegenkönig werden würde, war längst ausgemachte Sache, beschlossen in vielen Verhandlungen seit Philipps Wahl im März. Deshalb war es nicht mehr nötig, dass die Fürsten Otto ihre Stimme gaben. So beschränkten sie sich darauf, der Reihe nach vorzutreten, vor dem Thron niederzuknien und ihrem Herrscher die Treue zu schwören.
Die Wahl zog sich über viele Stunden hin. Obwohl die schwüle Hitze Aristide zusetzte, hielt er tapfer aus, denn Herzog Simon erwartete, dass er ihm Namen nennen würde.
Wer schloss sich dem antistaufischen Bündnis an? Vor wem musste man sich künftig in Acht nehmen?
Dutzende von Herren, weltliche wie geistliche, knieten vor Otto und leisteten ihren Treueeid. Mächtige Männer waren darunter, etwa Ottos Bruder, Pfalzgraf Heinrich der Ältere von Braunschweig; Adolf von Altena, der Erzbischof von Köln; Hermann I., Pfalzgraf von Sachsen und Landgraf von Thüringen; und Heinrich I. von Brabant, genannt »der Mutige«.
Aristide hätte nicht gedacht, dass Otto so viele und so einflussreiche Unterstützer um sich würde scharen können. Philipp von Schwaben hatte an diesem glühend heißen Tag einen mächtigen Gegner bekommen. Das Heilige Römische Reich war nun wie mit der Axt gespalten.
Aristide lehnte am Stamm der Ulme, kaute auf einem Grashalm und beobachtete, wie Walram IV. von Limburg zum Baldachin schritt. Ihm war ein interessanter Gedanke gekommen: Konnte er den drohenden Zwist zu seinem Vorteil nutzen? Er drehte und wendete diesen Einfall, verfeinerte ihn und wog die Risiken ab, bis die Wahl schließlich am frühen Nachmittag abgeschlossen war.
Otto von Braunschweig erhob sich von seinem Thron. Donnernder Jubel brach los.
Aristide spuckte den Grashalm aus.
Wenige Wochen später begann der Krieg.
Juli und August 1198
V ARENNES -S AINT -J ACQUES
M ichel brütete gerade über seinen Landkarten und plante die nächste Handelsreise, als aufgeregte Stimmen an sein Ohr drangen. Er schaute aus dem Fenster und sah Menschen ihre Häuser verlassen und in Richtung Domplatz eilen.
»Louis?«
Keine Antwort. Er legte die Schreibfeder weg und stieg die Treppe hinab. In der Küche bereitete die Magd, die er vorigen Monat eingestellt hatte, gerade das Abendessen zu. Louis war im Gesellschaftssaal, fegte den Boden und beobachtete das Treiben auf der Straße.
»Was ist da los?«, fragte Michel.
»Ich weiß nicht, Herr. Irgendetwas geschieht auf dem Domplatz.«
»Ich sehe mir das mal an.« Er verließ das Haus und folgte der Menge. Der Markt war seit einer halben Stunde zu Ende, und auf der freien Fläche zwischen Dom und den Verkaufsständen schien sich die halbe Stadt versammelt zu haben. Offenbar eine amtliche Verlautbarung, die er um wenige Augenblicke verpasst hatte. Er reckte den Hals und erblickte den städtischen Ausrufer, der mit einer Pergamentrolle in der Hand zum Palast schritt.
»Was ist passiert?«, fragte er Charles Duval, den er beim Marktkreuz entdeckt hatte.
Sein alter Freund schwitzte in der Abendsonne und nestelte nervös am Ärmel seines Gewandes herum. »Wir haben Krieg«, sagte er leise.
»Krieg?«
»Der Bischof von Köln und die norddeutschen Fürsten haben Otto von Braunschweig zum Gegenkönig gewählt. Als Philipp von Schwaben davon erfuhr, hat er ein Heer aufgestellt und erklärt, die Welfen und ihre Anhänger zu vernichten. Mehr hat der Ausrufer nicht gesagt, aber ich schätze, dass die Kämpfe bereits begonnen haben.«
Michel kniff die Lippen zusammen. All die Monate hatte er gehofft, die Fürsten würden eine friedliche Lösung
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