Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
hätte damit gerne noch ein, zwei Jahre gewartet, doch unter diesen Umständen blieb ihr kaum eine andere Wahl. Zumal Rémy, aufgeweckt, wie er war, längst angefangen hatte, Fragen zu stellen: Warum müssen wir bei den Beginen wohnen? Wieso sind die Leute so gemein zu uns? Was sind das für Sünden, die du büßen musst?
Er wollte aufstehen und gehen, doch sie hielt ihn zurück. »Warte. Ich muss dir etwas sagen. Du weißt doch, dass Michel und ich heiraten wollen, wenn die Zeit dafür reif ist.«
Rémy nickte.
»Es ist so, dass wir uns schon seit langer Zeit lieben. Seit zwölf Jahren, bevor du geboren wurdest.«
»Aber du hast doch Vater geliebt«, sagte er.
»Ja. In gewisser Weise habe ich beide geliebt.«
Verständnislos schaute er sie an, und sie wusste: Dies würde ein langes, schwieriges und schmerzhaftes Gespräch werden.
»Wir wollten schon einmal heiraten, Michel und ich, aber Onkel Gaspard hat es uns verboten. Wir ließen uns das nicht gefallen und trafen uns heimlich, zwei Jahre lang. Irgendwann beschloss Onkel Gaspard, mich einem anderen Mann zur Frau zu geben. Er hieß Hernance Chastain. Ich war nicht glücklich mit ihm und traf mich weiter mit Michel, obwohl ich wusste, dass das eine Sünde ist. Wir waren verzweifelt – wir konnten nicht anders. Als man uns erwischte, wurden wir für unser Verbrechen bestraft, aber da war ich schon schwanger. Mit dir.«
Sie machte eine Pause und wartete. Rémy saß nur da und starrte zu Boden.
»Bitte hör mir jetzt gut zu, auch wenn es dir schwerfällt, die Wahrheit zu ertragen«, fuhr sie fort. »Dein Vater ist nicht Thomasîn, auch nicht Hernance Chastain. Es ist Michel. Deshalb hat er dich all die Jahre besucht, obwohl ihn viele Wegstunden von dir trennten. Weil du sein Sohn bist. Weil er dich mehr liebt als sonst etwas auf der Welt.«
»Nein«, sagte Rémy. »Ich bin kein Bastard. Thomasîn ist mein Vater.«
»Thomasîn hat dich geliebt, als wäre er es. Aber er wusste, dass du das Kind eines anderen bist. Er wusste es von Anfang an. Es hat ihn nicht gekümmert, denn er war ein gütiger und kluger Mann, der verstanden hat, dass das Leben manchmal Umwege geht. Dass Menschen einander lieben können, auch wenn die Kirche es ihnen verbietet. Für ihn warst du immer sein Sohn. Eigentlich kannst du dich glücklich schätzen, denn wenn man es so sieht, hast du zwei Väter«, fügte sie lächelnd hinzu.
»Du lügst!« Er sprang auf. »Ich habe nur einen Vater!«
»Rémy«, begann Isabelle, doch er hörte ihr nicht zu. Sein Gesicht glühte, und Tränen flossen über seine geschundenen Wangen.
»Michel ist nicht mein Vater!«, schrie er. »Er ist mein Onkel!«
»Setz dich wieder hin, bitte.«
»Ich will nicht, dass du ihn heiratest!« Als sie seine Hand nahm, riss er sich los und rannte aus dem Spital.
»Rémy, jetzt warte doch!«
Er kam nicht zurück und tauchte auch zum Abendessen nicht auf. Zwei volle Tage sprach er kein Wort mit ihr.
Und Michel ging er von nun an aus dem Weg.
F ÜNFTES B UCH
Saeculum novum
August 1202
bis September 1206
August 1202
V ARENNES -S AINT -J ACQUES
E s war heiß.
Isabelle wischte sich den Schweiß von den Wangen, nachdem sie die Treppe zur Stube der Magistra hinaufgestiegen war, und wünschte, sie könnte ein leichtes Kleid anziehen, eines aus dünnem flandrischem Tuch, das sie früher so gemocht hatte. Doch die Regeln des Beginenhofs erlaubten keine Ausnahme: Gestattet war den Schwestern nur die graue, hochgeschlossene Haubentracht, selbst im Hochsommer, wenn die glühende Hitze jede körperliche Anstrengung zur Qual machte.
Heute legte der Allmächtige es darauf an, ihre Entschlossenheit besonders hart zu prüfen. Irgendwo in der nahen Judengasse briet jemand Lammfleisch, und durch den Fensterschlitz am oberen Ende der Treppe drang ein betörender Duft. Isabelle lief das Wasser im Mund zusammen. Seit mehr als drei Jahren lebte sie nun von dünnem Bier, dünner Suppe, trockenem Brot und ungesalzenem Haferschleim, und es kostete sie all ihre Willenskraft, nicht zur Judengasse zu stürmen, das Fleisch zu stehlen und die Zähne hineinzuschlagen.
Man hatte ihr versprochen, sie würde sich rasch an das karge Fastenmahl gewöhnen. Das stimmte. Aber von den vielfältigen Versuchungen, die an jeder Ecke lauerten, hatte niemand etwas gesagt.
Sie kniff die Lippen zusammen und öffnete die Tür. Magistra Frédégonde saß am Tisch und schaute von ihrer Bibel auf.
»Gut, dass du da bist, Isabelle. Abt Auger von der
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