Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Rémy mied Michel, er sprach nicht mehr mit ihm, und niemals nannte er ihn Vater.
In gewisser Weise konnte Isabelle ihren Sohn sogar verstehen. Michel mochte sein leiblicher Vater sein, doch Thomasîn war immer da gewesen, hatte ihn erzogen, beschützt, zu dem gemacht, der er war. Und die Wahrheit zu akzeptieren war niemals leicht, schon gar nicht für ein Kind, das in seinem kurzen Leben bereits mehr Leid erfahren hatte als so mancher Erwachsene.
Sie schob eine Haarsträhne, die hervorgerutscht war, zurück unter die Haube und reinigte ihre Hände mit einem Tuch von Staub und Spinnweben. Sie konnte nichts tun als zu hoffen, dass die Zeit Rémys Wunden heilen würde und er und Michel eines Tages zusammenfinden würden.
Sie stieg die Kellertreppe hinauf und bat den Allmächtigen um Geduld und Gelassenheit, wie sie es in den letzten dreizehn Jahren so oft getan hatte.
Michel war noch keine halbe Stunde im Freien, doch er schwitzte bereits, als wäre er vom Fischmarkt zum Heumarkt und wieder zurückgerannt. »Pass auf den Wagen auf«, wies er Louis an. »Ich ziehe mir rasch etwas Leichteres an.«
Obwohl er den Sommer hundertfach dem Winter vorzog, hatte er allmählich genug von der sengenden Glut, die das Moseltal verbrannte wie ein Hauch aus der Hölle. Zwei Wochen Hitze ohne einen Tropfen Regen und die kleinste Brise waren selbst ihm zu viel. Er tauschte das Gewand gegen einen dünnen Leinenüberwurf und die Stiefel gegen schlichte Lederschuhe, schlurfte die Treppe hinab und kletterte auf den Wagenbock. Auch der Ochse litt. Michel bat Louis, einen Eimer Wasser zu holen, aus dem das Rind gierig trank, bevor Michel es mit der Leine antrieb und den Wagen in Richtung Beginenhof lenkte.
Seit drei Jahren nun belieferte er die Schwesternschaft mit Waren und half ihnen beim Verkauf ihrer Erzeugnisse. Es war Isabelles Idee gewesen. Die Zusammenarbeit verschaffte ihnen einen Vorwand, sich einmal in der Woche zu treffen. Natürlich hatte die Magistra diesen Winkelzug bald durchschaut, doch da sie auf Isabelle und ihre kaufmännischen Gaben angewiesen war, drückte sie beide Augen zu und beließ es bei einer Ermahnung, Isabelle solle nicht unkeusch werden. Außerdem war dieses Arrangement für beide Seiten ein Gewinn: Dank Michels Verbindungen konnten die Beginen billig ein- und teuer verkaufen, und er bekam für seine Dienste den einen oder anderen Sou.
Nicht, dass er es nötig gehabt hätte. In den vergangenen Jahren hatte er viel Geld verdient und seinen Reichtum stetig vermehrt – was angesichts des fortdauernden Krieges einem Wunder gleichkam. Jahr für Jahr verloren Tausende bei den Kämpfen zwischen Philipp und Otto ihr Leben, in weiten Teilen des Reichs herrschten Chaos und Rechtlosigkeit, und der Handel mit Deutschland lag am Boden. Doch die Gilde von Varennes hatte sich nicht entmutigen lassen. Michel und seine Schwurbrüder hatten getan, was Kaufleute seit jeher taten: Sie hatten sich an die veränderten Bedingungen angepasst und versucht, das Beste daraus zu machen. Sie hatten Handelsbeziehungen nach Spanien, Süditalien und England geknüpft, wo sich niemand um den Krieg scherte. Einmal hatten Michel, Duval und Le Roux sogar von Genua aus eine Schiffsreise nach Konstantinopel und zum Heiligen Land unternommen und seltene Gewürze, kostbare Tuche und erlesenen Schmuck gekauft. Das Unternehmen war schwierig und gefährlich gewesen, doch es hatte sich hundertfach bezahlt gemacht. Klerus und Adel hatten ihnen die begehrten Waren nur so aus den Händen gerissen, und jeder von ihnen hatte ein Vermögen nach Hause getragen.
Michel fuhr den Wagen durch das Tor des Beginenhofs, grüßte die Schwestern, die im Garten arbeiteten, und stieg herunter. »Wo finde ich die Kellermeisterin?«, wandte er sich an Pétronille, eine ältere Begine, die mit Isabelle befreundet war.
»Ich weiß nicht, wo sie steckt. Vielleicht im Lagerkeller.«
»Ah, da kommt sie schon.«
Unwillkürlich lächelte Michel, als Isabelle ihm von den Wirtschaftsgebäuden entgegenkam. Sie war so schön wie eh und je, wenngleich das Fasten und die harte Arbeit auf dem Hof ihren Körper ein wenig ausgezehrt hatten und die graue Tracht ihre Vorzüge nicht eben betonte. Er zählte bereits die Tage bis zum Ende ihrer Buße – es waren zweihundertachtundzwanzig. Nächstes Jahr im April würde sie die Schwesternschaft verlassen, und sie konnten endlich heiraten.
Lächelnd begrüßte sie ihn. Michel sehnte sich danach, sie zu küssen. Was natürlich
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