Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Wolf
Vom Netzwerk:
Abtei Longchamp war gerade da und hat mich auf einen interessanten Gegensatz im Fünften Buch Mose hingewiesen. Setz dich und hör dir das an. Ich muss deine Meinung erfahren.«
    Isabelle teilte die Begeisterung der Magistra für theologische Fragen nur bedingt. Doch sie hörte geduldig zu und bemühte sich, eine kluge Antwort zu geben. Das schien ihr gelungen zu sein, denn Frédégonde klappte zufrieden die Bibel zu und lehnte sich zurück.
    »Du meinst also, wenn das Volk Israel mit den Amoritern Frieden geschlossen hätte, wäre ihm viel Leid erspart geblieben? So habe ich das noch gar nicht gesehen.« Die Magistra begann darüber nachzudenken und verfiel in Schweigen.
    Isabelle räusperte sich und lenkte Frédégondes Aufmerksamkeit auf das Pergament, das sie mitgebracht hatte. »Können wir rasch die Geschäfte der kommenden Woche besprechen?«
    »Gewiss, mein Kind. Gewiss. Ist das die Warenliste?«
    Gemeinsam gingen sie die Aufstellung durch, und Isabelle erläuterte die verschiedenen Posten. Wie immer genehmigte die Magistra ohne zu zögern jeden geplanten Ein- und Verkauf. Sie vertraute ihr blind, was die Geschäfte der Schwesternschaft betraf, aus gutem Grund: Seit Isabelle Kellermeisterin war, ging es mit dem Beginenhof steil bergauf. In nicht einmal einem Jahr war es ihr gelungen, aus einem ruinösen Unternehmen einen blühenden Betrieb zu machen. Sie hatte der Misswirtschaft ein Ende gesetzt und dafür gesorgt, dass der Hof Monat für Monat Gewinn abwarf: Geld, das den Kranken und Bedürftigen zugutekam. In der Stadt liebte man Isabelle dafür; besonders die ärmeren Bürger verehrten sie geradezu. Von den Sünden ihrer Vergangenheit sprach schon lange niemand mehr.
    »War es das?«, fragte die Magistra.
    »Ich denke schon. Wenn mir noch etwas einfällt, lasse ich es Euch wissen.«
    »Hab Dank, mein Kind. Was würde ich nur ohne dich tun?« Frédégonde küsste sie auf die Stirn. Isabelle rollte das Pergament zusammen und überließ die Vorsteherin ihren Bibelstudien.
    Der Innenhof briet schier in der Sonne, und Pétronille hatte alle Hände voll zu tun, die darbenden Pflanzen in den Kräuter- und Gemüsebeeten zu gießen. Isabelle kühlte ihr Gesicht am Brunnen und beschloss, den Nachmittag im Lagerkeller zu verbringen, wo es zwar stickig, aber wenigstens kühl war. Als sie gerade zu den Wirtschaftsgebäuden gehen wollte, kam Rémy durch das Tor. Sein dunkelblondes Haar war feucht, das dünne Leinenhemd und die Bruche klebten ihm am Körper. Er war mit seinen Freunden im Fluss schwimmen gewesen und schlenderte barfuß durch den Innenhof, in der Hand seine Schuhe.
    »Ist noch etwas zu essen für mich da?«, fragte er.
    »Clarisse hat etwas Brot und Käse für dich aufgehoben. Es steht in der Küche.«
    Rémy leckte sich die Lippen. Er war in seinem dreizehnten Lebensjahr, und wie alle Jungen seines Alters war er andauernd hungrig. Als er davonstürmen wollte, hielt Isabelle ihn auf. »Denkt daran, dass dein Vater später kommt.«
    »Na und?«, fragte er unwillig.
    »Ich möchte, dass du dich zu uns setzt, und nicht wieder verschwindest, wie letzte Woche.«
    »Aber ich habe Schwester Nicole versprochen, ihr mit der Bibel für Pater Jodocus zu helfen.«
    »Das Skriptorium wird einmal eine Stunde ohne dich auskommen. Er kommt zur None. Kann ich mich auf dich verlassen?«
    Er verzog das Gesicht.
    »Rémy?«
    »Ja, Mutter«, sagte er missmutig.
    Mit hängenden Schultern schlurfte er davon. Isabelle seufzte und ging zum Lagerkeller, wo sie Kisten mit Gemüse, Stoffballen und andere Waren zur Treppe stellte, damit Michel sie später mitnehmen konnte. Rémys Verhältnis zu seinem Vater war und blieb schwierig, obwohl sie gehofft hatte, es würde sich bessern, wenn er älter würde. Doch das Gegenteil war der Fall. Dabei gab Michel sich alle Mühe, für ihn da zu sein und seine Zuneigung zu gewinnen.
    Wenn ich nur etwas tun könnte, damit er Michels Liebe erwidert.
    Drei Jahre waren vergangen, seit sie Rémy die Wahrheit über seine Herkunft gesagt hatte. Sie hatten damals eine schwierige Zeit durchgemacht, Wochen voller Streit und jäher Wutausbrüche. Erst im Winter war sein Zorn allmählich abgekühlt. Rémy war wieder ins Skriptorium gegangen, um den Buchmalerinnen bei der Arbeit zuzuschauen, er hatte mit seinen Freunden gespielt und sich um die Tiere des Hofs gekümmert, und sie sprachen nicht mehr über die Angelegenheit. Es ließ sich jedoch nicht leugnen, dass jener Tag im September alles verändert hatte.

Weitere Kostenlose Bücher