Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
erst recht für uns. Wenn wir uns seinem Willen widersetzen, machen wir uns der Felonie schuldig und können in Acht und Bann fallen.«
Albert lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es war nur ein Vorschlag. Wenn Ihr anderer Meinung seid – bitte. Aber ich lasse mir nicht verbieten, meinen Verstand zu gebrauchen.«
»Niemand verbietet Euch das Denken«, erwiderte Duval. »Aber es ist nun einmal so, dass Herr de Fleury, ich und viele andere hier schon vor langer Zeit erfahren haben, dass Gewalt zu gar nichts führt – nur zu noch mehr Gewalt. Wir müssen uns in Geduld üben und hoffen, dass bald bessere Zeiten kommen. Vielleicht erhört Gott unsere Gebete und schenkt uns noch vor dem Winter Frieden.«
Doch Gott ignorierte ihre Gebete: Der Krieg tobte auch im nächsten Jahr.
Und im Jahr darauf.
Und viele weitere Jahre.
September 1199
V ARENNES -S AINT -J ACQUES
I sabelle schob die Silbermünzen vom Rechenbrett in die Schatulle, griff nach dem Gänsekiel und rechnete die Zahlen auf ihrer Liste zusammen. Als sie die Summe zweimal unterstrich, erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Zum ersten Mal, seit sie das Amt der Kellermeisterin angetreten hatte, waren die Einnahmen der Schwesternschaft merklich höher als die Ausgaben. Fast vier Pfund Silber Gewinn hatten sie im August gemacht. Die harte Arbeit der letzten Monate begann sich endlich auszuzahlen.
Sie beschloss, sogleich Magistra Frédégonde an der frohen Botschaft teilhaben zu lassen. Isabelle streute Löschkalk auf das Pergament, rollte es zusammen und verließ ihre kleine Schreibstube im Wirtschaftsgebäude.
Im Innenhof begegnete ihr Rémy. Mit hängenden Schultern schlurfte ihr Sohn vom Tor zum Wohnhaus, von oben bis unten mit Schlamm bespritzt.
»Was ist denn passiert? Bist du hingefallen?«
»Hab mich geprügelt«, murmelte er und hob den Kopf. Isabelle erschrak nicht wenig, als sie den Bluterguss unter seinem linken Auge sah. Die ganze Wange leuchtete rot und blau. An der Stirn hatte er Schrammen, seine Augenbraue war aufgeplatzt und blutete leicht.
»Wer hat das getan?«
»Élie und Jean-Pierre.«
»Aber sie sind doch deine Freunde.«
»Die können mich mal«, sagte Rémy missmutig.
»Komm, gehen wir zu Pétronille. Sie wird sich um dich kümmern.«
Isabelle fand ihre Freundin im Spital, wo kranke und verletzte Schwestern Pflege erhielten. Gerade war Pétronille damit beschäftigt, Kräuter und Wurzeln aus dem Garten zum Trocknen aufzuhängen und im Mörser zu Pulver zu zerstoßen. Die Begine bat Rémy, sich zu setzen, säuberte seine Blessuren, rieb den Bluterguss mit Arnikasalbe ein und besprach die Augenbraue mit einem Blutsegen.
»Alles halb so schlimm«, sagte Pétronille lächelnd und legte Rémy die Hand auf die Wange. »In ein paar Tagen sieht man davon nichts mehr. Komm morgen noch einmal zu mir, damit ich mir ansehen kann, wie die Schrammen verheilen.«
Isabelle konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum ihr Sohn sich geprügelt haben könnte. Das hatte er noch nie getan. Rémy war ein friedfertiges Kind. Wie sein Vater zog er es vor, Streitigkeiten mit Klugheit zu lösen, nicht mit den Fäusten. »Haben Élie und Jean-Pierre dich angegriffen?«
»Sie haben mich beleidigt.« Kurz hob Rémy den Blick und senkte ihn wieder. »Und dich und Vater auch.«
Isabelle ahnte, was geschehen war. »Lässt du uns kurz allein?«, bat sie Pétronille. »Was haben sie zu dir gesagt?«, fragte sie, als ihre Freundin gegangen war.
Rémy kaute auf seiner Lippe und gab keine Antwort.
»Sag es mir, bitte.«
»Dass ich in Wirklichkeit Onkel Michels Bastard bin«, murmelte er.
Isabelle setzte sich neben ihn. Seit geraumer Zeit machte in Varennes das Gerücht die Runde, Rémy sei Michels unehelicher Sohn, die Frucht ihres sündhaften und ehebrecherischen Verhältnisses. Isabelle hatte alles versucht, den Jungen vor diesem Gerede zu schützen, aber natürlich stand es nicht in ihrer Macht zu verhindern, dass er irgendwann davon erfuhr. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was draußen vor dem Salztor, wo Rémy gerne spielte, geschehen war. Élie und Jean-Pierre hatten ihn mit seiner unehelichen Herkunft aufgezogen, und in dem ebenso rührenden wie zwecklosen Versuch, seine, ihre und Thomasîns Ehre zu verteidigen, hatte er sich mit geballten Fäusten auf die Spötter gestürzt, obwohl er den beiden älteren und stärkeren Bauernburschen nicht gewachsen war.
Du musst ihm endlich die Wahrheit sagen. Isabelle
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