Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
undenkbar war. Die Beginen hätten sie auf der Stelle aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen, und die Entbehrungen der letzten drei Jahre wären umsonst gewesen.
»Wo ist Rémy?«
»Er weiß Bescheid. Gewiss kommt er gleich.«
Sie holten die Gemüsekisten und Stoffballen aus dem Keller und stellten sie auf die Wagenpritsche, und Isabelle gab ihm die Liste mit den Waren, die er für die Beginen einkaufen sollte. Als sie fertig waren, war Rémy immer noch nicht da.
»Sicher ist er noch im Skriptorium. Du weißt ja, wie er ist: Gib ihm ein Buch, und er vergisst alles um sich herum. Warte hier. Ich geh ihn holen.«
Sie schritt über den Hof. Michel wusste es zu schätzen, dass sie versuchte, seine Gefühle zu schonen, doch natürlich kannte er den wahren Grund für Rémys Fernbleiben. Mit einem Seufzer auf den Lippen setzte er sich neben der Hofmauer in den Schatten. Ihr Verhältnis schien von Monat zu Monat schwieriger zu werden. Michel hatte deswegen bei Pater Jodocus Rat gesucht, hatte mit Freunden gesprochen, die gleichaltrige Söhne hatten, doch nichts, was er tat oder sagte, bewirkte etwas. Rémy entglitt ihm, obwohl er sich redlich bemühte, ihm ein guter Vater zu sein.
Und dann war da noch die Sache mit der Buchmalerei. So sehr er Rémys Liebe zu Büchern nachvollziehen konnte, erfüllte es ihn doch mit Sorge, dass der Junge den ganzen Tag im Skriptorium saß und eifrig den Schreiberinnen half, während er für geschäftliche Zusammenhänge keinerlei Interesse zeigte. Michel wünschte sich nichts mehr, als dass sein Sohn eines Tages in seine Fußstapfen trat. Doch wie sollte er unter diesen Umständen einen Kaufmann aus ihm machen?
Michel beschloss, ihn im nächsten Jahr, wenn sie erst eine richtige Familie waren, zu den Champagne-Messen mitzunehmen. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie fasziniert er gewesen war, als er zum ersten Mal die riesigen Märkte und die Berge von fremdländischen Waren gesehen hatte. Gewiss würde es Rémy genauso ergehen.
Sein Sohn trat aus dem Skriptorium und schlurfte mit der üblichen mürrischen Miene neben seiner Mutter her, die mit ihm geschimpft hatte, nach dem Ausdruck in ihrem Gesicht zu schließen.
Michel zwang sich zu einem Lächeln. »Na, mein Großer, wie geht es dir?«
Rémy zuckte mit den Achseln.
»Gehst du nicht schwimmen? Es ist doch viel zu heiß, um in diesem Gemäuer herumzusitzen.«
»Ich war heute Mittag schwimmen.«
Michel öffnete seine Börse und reichte ihm einen Denier. »Hier, dein Taschengeld. Aber gib nicht wieder alles für Zuckergebäck aus, hörst du?«
»Wie sagt man?«, fragte Isabelle.
»Danke.«
»Danke, Vater. «
Wortlos steckte Rémy die Münze ein. Michel gab ihm jedes Mal, wenn sie sich sahen, einen oder zwei Deniers. Er redete sich ein, dass er das tat, damit der Junge lernte, mit Geld umzugehen – und nicht, um seine Zuneigung zu kaufen, wie ihm eine böse kleine Stimme in seinem Innern beharrlich vorwarf. Ganz gewiss nicht deswegen.
»Setz dich zu mir. Erzähl, was hast du heute gemacht?«
»Im Skriptorium gearbeitet.«
»Ist die neue Bibel für Pater Jodocus fertig?«
»Fast.«
»Schwester Nicole lässt ihn inzwischen die Farben mischen«, sagte Isabelle.
»Die Seiten darf ich auch schon linieren«, ergänzte Rémy.
»Hilfst du gelegentlich auch deiner Mutter?«, fragte Michel. »Du kannst doch gut rechnen – wieso kümmerst du dich nicht um die Geschäftsbücher?«
»Ich arbeite lieber im Skriptorium«, war die knappe Antwort.
»Aber von deiner Mutter kannst du lernen, wie man Preise kalkuliert und Marktzölle berechnet.«
»Ich weiß schon, wie das geht.«
»Wirklich? Na, es gibt bestimmt noch das eine oder andere, das sie dir beibringen kann.«
Schweigen sank herab. Es war immer dasselbe: Früher hatte Rémy fröhlich von seinen Erlebnissen geplaudert, und man hatte ihn kaum bremsen können. Heute musste man ihm jedes Wort aus der Nase ziehen und konnte froh sein, wenn er überhaupt etwas von sich preisgab. Um die Unterhaltung wieder in Gang zu bringen, beschloss Michel, von seiner letzten Handelsreise zu erzählen.
Doch Rémy kam ihm zuvor. »Ich will Buchmaler werden«, sagte er unvermittelt.
»Darüber haben wir doch schon gesprochen, Rémy«, begann Isabelle.
»Das ist mir egal. Wenn ich dreizehn bin, suche ich mir einen Meister, der mich als Lehrling nimmt.«
»Du gehst bei mir in die Lehre«, sagte Michel. »Du wirst Kaufmann.«
»Nein«, erwiderte der Junge trotzig.
»Hör zu, Rémy. Das
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