Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
erfahren. Als er glaubte, niemand sehe es, wischte er sich eine Träne aus dem Auge.
Zum Schluss trat Magistra Frédégonde vor und ergriff Isabelles Hände. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Schwester. Ohne deinen Mut und deine Tatkraft gäbe es diese Gemeinschaft vielleicht schon lange nicht mehr. Gott segne dich, mein Kind. Werde glücklich mit deinem Michel.«
Die kleine Frau streckte sich, zeichnete ihr mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn und küsste sie auf die Wange.
Und dann ging Isabelle. Sie wandte sich um, kniff die Lippen zusammen und setzte langsam einen Fuß vor den anderen, während sie zum Tor schritt. Als sie einst durch diese Pforte getreten war, war sie ehrlos gewesen, der Schandfleck ihrer Familie, von allen verachtet. Viel war geschehen in den letzten vier Jahren. Sie hatte ihre Sünden gebüßt, sich von ihrer Schuld reingewaschen und die Liebe der Menschen erworben.
Isabelle hob den Kopf, legte Rémy die Hand zwischen die Schulterblätter und durchquerte das Tor als ehrbare Frau.
Michel führte Rémy die Treppe hinauf und öffnete die Tür neben der Stube. »Ich habe alles so gelassen, wie es war. Nur die Truhe da ist neu. Schau mal hinein.«
Zögernd betrat Rémy seine alte Kammer und legte den Beutel mit seinen wenigen Habseligkeiten auf den Tisch. Er ging in die Hocke, klappte den Deckel der Truhe auf und nahm das Buch heraus.
»Geschichten über das Wirken des heiligen Jacques«, erklärte Michel, »aus dem Skriptorium der Abtei Longchamp. Ich dachte, es könnte dir gefallen.«
Rémy schlug das Buch auf und betrachtete die wundervollen Miniaturen. »Für mich?«
»Es gehört dir. Dein erstes Buch.«
Ein seltenes Lächeln huschte über das Gesicht des Jungen. »Danke.«
»Als Nächstes brauchst du neue Kleider«, sagte Michel. »Der Sohn eines Kaufmanns sollte nicht in einem Leinenkittel herumlaufen. Morgen lasse ich den Schneider kommen, damit er dir zwei Wämser und ein Gewand für die Hochzeit macht. Danach gehen wir zum Schuhmacher. Einverstanden?«
Rémy nickte.
Michel beschloss, ihn allein zu lassen, damit er sich an sein neues Heim gewöhnen konnte. Die letzten Monate waren nicht einfach gewesen. Seit ihrem Streit im Sommer hatte sich Rémy noch mehr von ihm zurückgezogen und so gut wie gar nicht mehr mit ihm geredet. Denkbar schlechte Voraussetzungen für die zahlreichen Veränderungen, die nun anstanden. Doch Rémy ging erstaunlich gelassen damit um und hatte sich dem Umzug in Michels Haus nicht widersetzt, obwohl er den Beginenhof gewiss vermissen würde. Hatte er sich damit abgefunden, dass ein neuer Abschnitt seines Lebens begann? Michel hoffte es.
Es war ein Neuanfang, für sie alle. Michel war entschlossen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Vielleicht schaffte das auch Rémy, damit sie endlich eine richtige Familie sein konnten. Das war Michels sehnlichster Wunsch, seit so vielen Jahren.
Er betrat die Kammer, in der Isabelle bis zu ihrer Hochzeit schlafen würde. Sie stand reglos am Fenster, die Hände auf dem Sims, und hörte ihn nicht hereinkommen. Gedankenverloren betrachtete sie das Treiben auf der Rue de l’Épicier.
»Bedrückt dich etwas?«, fragte er.
Sie lächelte zerstreut. »Nein. Es ist nur alles so neu. Ein richtiges Haus, eine Kammer für mich allein – ich bin das nicht mehr gewohnt.« Sie verzog den Mund. »Ich weiß, ich bin eine dumme Gans. Wir haben so lange gewartet, ich sollte jubeln vor Freude, aber ich stehe lieber blöd herum und starre Löcher in die Luft. Bitte hass mich nicht.«
»Ich weiß, wie du dich fühlst. Mir geht es genauso.«
»Wirklich?«
»Für mich ist auch alles neu. Und ich habe ein bisschen Angst«, gestand er.
Sie nickte. »Dass es wieder schiefgehen könnte.«
»Aber es wird nicht schiefgehen.«
»Nein. Das wird es nicht. Ganz sicher nicht.«
Er musste grinsen. »Hör uns reden. Nichts als Sorgen, Zweifel und Bedenken. Waren wir schon immer so?«
»Ich glaube, wir werden alt.«
»Ja, das wird es sein.« Er trat zu ihr, legte ihr die Hände auf die Hüften. »Wir haben viel nachzuholen.« Er wollte sie küssen, doch sie drehte den Kopf, sodass seine Lippen nur ihre Wange berührten.
»Nicht. Lass uns bis zur Hochzeit warten.«
Sein Verlangen war so mächtig, dass er sie nicht loslassen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. »Nur einmal«, sagte er, und seine Stimme war rau. »Niemand kann uns das verwehren.«
Sanft löste sie sich aus seiner Umarmung und trat einen Schritt zurück,
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