Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Aufsässigkeit und Ablehnung satt. »Schau her, was passiert, wenn du dich gegen deinen Vater auflehnst!«, schrie er. »Sieh genau her.« Er warf die Pergamente aus dem Fenster. »Sollen die Schweine sie fressen!«
»Nein! Du Mistkerl!« Rémy hämmerte mit den Fäusten gegen Michels Brust, während Tränen über sein Gesicht rannen.
»Du wagst es, die Hand gegen mich zu erheben?«
Er versetzte dem Jungen eine schallende Ohrfeige. Rémy taumelte zurück und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.
Michel schluckte hart. Er hatte das nicht gewollt. Doch er war so wütend gewesen … und war es immer noch. Er packte Rémy am Arm und zerrte ihn aus der Kammer, die Treppe hinab.
»Was ist denn los?«, fragte Isabelle im Eingangsraum.
»Er wollte nicht mitkommen und ist mit geballten Fäusten auf mich losgegangen«, sagte Michel.
»Er hat meine Sachen aus dem Fenster geworfen!«, schrie Rémy.
»Ist das wahr?«, fragte Isabelle. »Hast du deinen Vater geschlagen?«
Anstelle einer Antwort schluchzte Rémy nur. Michel führte ihn zur Tür. »Ich habe genug von seinen Launen. Ab heute ziehe ich andere Saiten auf. Er braucht offensichtlich eine harte Hand.«
»Wieso beruhigst du dich nicht erst einmal?«
»Ich war viel zu lange ruhig. Weißt du, was mein Vater getan hätte, wenn ich mich so aufgeführt hätte? Er hätte mich die Grande Rue hinuntergeprügelt. Der Junge fährt mit mir nach Provins, und wenn ich ihn an den Ohren hinzerren muss.«
»Mutter!«, schrie Rémy.
»Gehorch deinem Vater«, sagte Isabelle.
»Rauf mit dir«, befahl Michel, als sie vor dem Wagen standen. »Und hör auf zu flennen. Die Leute schauen schon.« Er stieg zu seinem Sohn auf den Wagenbock und trieb den Ochsen an. Yves und die Söldner folgten ihnen mit den Saumpferden.
Rémy sprach für den Rest des Tages kein Wort mehr.
Sie kamen bis zu der kleinen Ortschaft Houécourt in der Vogtei Neufchâteau, bevor der Abend hereinbrach. Außerhalb des Dorfes an der alten Römerstraße gab es eine Herberge, in der Michel schon oft übernachtet hatte. Während Yves und die Söldner den Wagen in die Remise brachten und die Tiere versorgten, ging Michel mit Rémy zum Schankraum, aus dem der Lärm zechender Reisender drang.
»Willst du noch etwas essen oder gleich schlafen gehen?«, fragte er seinen Sohn.
Rémy gab keine Antwort, blickte ihn nicht an, hatte ihn vielleicht nicht einmal gehört.
»Du willst dich also weiter wie ein beleidigter Vierjähriger benehmen. Bitte. Ganz wie du willst. Ich esse noch eine Kleinigkeit und trinke ein Bier. Setz dich dazu oder lass es bleiben.«
Michel suchte sich einen freien Tisch. Rémy ging wortlos weiter und stieg die Treppe zum Schlafraum hinauf. Als Michel ihm später folgte, lag der Junge bereits im Stroh und schlief.
Am nächsten Morgen war er verschwunden.
»Er hat eines der Saumpferde, einen Beutel mit Silber und Proviant mitgenommen«, berichtete Michel zwei Tage später Isabelle. »Von Houécourt aus ist er anscheinend in Richtung Épinal geritten, aber sicher bin ich mir nicht. Östlich von Guoherei hat ihn niemand mehr gesehen.«
Isabelle saß am Tisch und weinte. Als er ihre Hand nehmen wollte, stand sie jählings auf. »Das ist deine Schuld. Du hast ihn zu hart angepackt.«
»Der Junge hat mir keine Wahl gelassen«, erwiderte Michel scharf. »Hätte ich ihm sein Verhalten durchgehen lassen sollen? Ich hätte mich zum Gespött der ganzen Stadt gemacht.«
Sie trat ans Fenster und rieb sich die Arme. »Wenn ihm etwas zugestoßen ist? Er ist doch erst dreizehn.«
»Ich finde ihn«, sagte Michel. »Verlass dich auf mich.«
Drei Wochen lang suchte Michel halb Oberlothringen ab. Da er davon ausging, dass Rémy zu einem Buchmalermeister gegangen war, um eine Lehre zu beginnen, suchte er zuerst in Nancy und Metz, wo es viele angesehene Buchmaler gab. Als er Rémy dort nicht fand, ritt er weiter nach Verdun, Toul und Épinal, ebenfalls ohne Erfolg.
Sein Sohn war wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hatte etwas von ihm gehört, geschweige denn ihn gesehen oder mit ihm gesprochen.
Niedergeschlagen kehrte Michel wenige Tage vor Fronleichnam nach Varennes zurück. Isabelle und er gingen zum Dom, stifteten zwei große Kerzen und flehten den heiligen Jacques auf Knien an, er möge Rémy nach Hause führen.
Doch Rémy kam nicht. Nicht diesen Monat und auch nicht im nächsten.
April 1204
B URG G UILLORY
A ristide stand auf dem Dach des Palas’ und legte die Hände auf die Zinnen. Während
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