Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Varennes aufgebrochen war, hatte er ihnen versprochen, ihnen Zuflucht und Schutz zu gewähren, bis Aristide de Guillory keine Gefahr mehr für sie darstellte.
Michel hörte Schritte und wandte sich um. Velin kam die Treppe herauf. Es war bereits Abend, und als sie zu ihm an die Zinnen trat, reckte sich ihr Schatten bis zu dem fünfzehn Ellen entfernten Wehrturm. Sie hatte ihre Haube abgenommen, sodass der Wind mit ihrem Haar spielte.
Sie legte ihre Hände auf die Mauerkrone und blickte in die Ferne. »Was geschieht jetzt mit Aristide?«, fragte sie nach einer Weile.
»Das hängt ganz von ihm ab, schätze ich. Wenn er sich Ferry unterwirft und seiner Gnade ausliefert, kommt er vielleicht mit dem Leben davon. Wenn nicht, wird Ferry ihn vernichten.«
»Findet Ihr auch, dass er den Tod verdient hat?«
»Er hat meinen Bruder erschlagen, einen guten Freund ermordet und viel Leid über meine Stadt gebracht. Ja. Wenn jemand den Tod verdient hat, dann er.«
»Er war nicht immer so«, sagte Velin. »Als ich ihn kennenlernte, war er anders. Gewiss, rau und rücksichtslos war er auch damals schon. Aber kein Mörder. Er hätte niemals jemanden grundlos getötet. Sein Vater hat ihn dazu gemacht. Der alte Renard war ein Ungeheuer. Er hat ihn so lange gequält, bis er zerbrochen ist.«
Michel behielt seine Meinung zu dieser Geschichte für sich. Velin hatte sich die Vergangenheit schöngeredet, und seine Sicht der Dinge hätte sie nur verletzt. »Wie geht es Gislebert?«
»Gut, den Umständen entsprechend.«
»Wenn Ferry wieder da ist, sollte er mit ihm reden. Besser noch mit Ferrys Vater. Es kann sein, dass er Erbansprüche hat, wenn de Guillory nicht mehr ist.«
»Glaubt Ihr?«, fragte Velin überrascht.
»Die Sache ist vertrackt, da er nicht dem Adelsstand angehört. Aber er ist immerhin de Guillorys rechtmäßiger Sohn. Wenn Ferry der Ältere guten Willens ist, findet er ihn vielleicht mit einer großzügigen Summe ab.«
Sie machte keine Anstalten, ihm für diesen Hinweis zu danken. Stattdessen blickte sie wieder in die Ferne.
Michel seufzte kaum hörbar. »Noch einen schönen Abend«, sagte er und stieg die Treppe hinab.
Der Hof der Kernburg war inzwischen zur Ruhe gekommen. Die Handwerker und Knechte saßen mit ihren Familien vor den Wohngebäuden und aßen zu Abend. Conon, Aëlred, Gislebert und seine Söldner hatten mit den Stallknechten Bekanntschaft geschlossen, teilten sich mit ihnen Brot und Bier und erzählten lachend Geschichten. Bei den einfachen Burgbewohnern fühlten sie sich wohler als zwischen Edelleuten und Patriziern.
Er fand Isabelle beim Brunnen, wo sie in der Abendsonne saß und eine Katze kraulte. Das Tier war in inniger Liebe zu ihr entbrannt und rieb seinen Kopf schnurrend an ihrer Hand.
»Sie sieht ein bisschen aus wie Salome«, sagte Michel, als er sich zu ihr setzte.
»Du erinnerst dich an sie?«
»Wie könnte ich sie vergessen? Sie ist mir auf den Schoß gesprungen, als wir uns das erste Mal trafen. Ohne Salome hätten wir uns vielleicht nie ineinander verliebt.«
»Katzen und ihre magischen Kräfte«, sagte sie lächelnd. »Da sieht man es wieder.«
Die Katze hatte genug und trottete davon. Michel beobachtete Gislebert, der Bier holen ging. »Was Rémy wohl gerade tut?«, murmelte er.
Isabelle blickte ihn flüchtig an, sagte jedoch nichts. Sie sprach nicht gerne über ihren Sohn – es schmerzte sie zu sehr.
»Er lebt noch, ich spüre es. Wenn ihm etwas zugestoßen wäre, wüsste ich es.«
Sie kniff die Lippen zusammen.
»Ich habe mir etwas vorgenommen. Wenn Ferry uns de Guillory vom Hals geschafft hat und in Varennes wieder Ordnung herrscht, such ich noch einmal nach ihm. Aber diesmal gebe ich nicht so schnell auf. Ich suche das ganze Reich ab, wenn es sein muss. Ich habe so viel falsch gemacht, ich muss das endlich geraderücken.«
Sie senkte den Blick und kämpfte mit den Tränen. »Ich weiß, wo er ist«, sagte sie leise.
Verständnislos starrte er sie an.
»Er hat mir geschrieben, dass es ihm gut geht.«
»Wann?«
»Vor zwei Monaten.«
»Wieso hast du mir nichts davon gesagt?«
»Er wollte es so.«
»Isabelle«, begann er, doch der Zorn erstickte jedes weitere Wort.
»Lies, was er geschrieben hat.« Sie wischte die Tränen weg und zog eine kleine Pergamentrolle hinter ihrem Gürtel hervor. Sie trug sie seit Wochen bei sich, doch er hatte sich nie etwas dabei gedacht.
Er riss ihr die Nachricht aus der Hand, entrollte sie und las die Zeilen mit angehaltenem
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