Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Metz geflohen und nach Behonne gegangen sind – wisst Ihr, was sie mir sagten? Großvater hätte Schulden bei der Tuchhändlergilde, und wir müssten verschwinden, damit man ihn nicht einsperrt. Ich hatte Angst. Ich habe mich geschämt.« Der junge Mann blickte ihn stechend an und sah de Guillory ähnlicher denn je. »Es kommt mir vor, als wäre mein ganzes Leben eine einzige Lüge. Zwanzig Jahre lang war ich Gislebert, Aëlreds Sohn, aus einer geachteten Familie von Wollwebern. Und jetzt? Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Könnt Ihr das verstehen?«
»Besser, als du ahnst«, sagte Michel.
»Aëlred hat mich aufgezogen, mich alles gelehrt, was ich weiß. Und nun erfahre ich, dass er gar nicht mein Vater ist. Was soll ich denn jetzt machen?«
»Was sagt dir dein Herz?«
Gislebert dachte lange nach. Als Michel schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, sagte er: »Aëlred wird immer mein Vater sein. Er war mein Leben lang für mich da. Alles andere ist unwichtig. De Guillory ist nur ein Name, mehr nicht.«
»Du kannst die Vergangenheit nicht ändern. Lass sie ruhen und schau nach vorn.«
Der junge Wollweber nickte und stand auf. »Habt Dank, Herr de Fleury.« Er ging.
Michel trank sein Bier.
Das Gespräch hatte ihn verwirrt und aufgewühlt, mehr, als er sich eingestehen wollte. Gewiss, er war nicht de Guillory und Rémy nicht Gislebert – und doch: Hier und da ähnelten sich ihre Lebenswege, ob es ihm gefiel oder nicht.
Was sagt dir dein Herz?
Ein kluger, ein weiser Ratschlag. Leider war er nie fähig gewesen, Rémy zuzugestehen, was er soeben Gislebert empfohlen hatte: auf seine Gefühle zu hören. Obwohl sie dasselbe erlebt hatten, obwohl sie beide von Männern aufgezogen worden waren, die nicht ihre Väter waren. Thomasîn hatte Rémy umsorgt und beschützt, als Michel nicht für ihn hatte da sein können, und natürlich liebte der Junge ihn dafür. Michel jedoch hatte darauf bestanden, dass er ihn als seinen Vater ansah, hatte insgeheim gehofft, er würde Thomasîn eines Tages vergessen. Wie selbstsüchtig. Rémy war doch noch ein Kind. Was hätte er denn tun sollen? Michel hätte akzeptieren müssen, was der Junge fühlte, statt ihn zu bedrängen und für Fehler büßen zu lassen, die Isabelle und er vor langer Zeit begangen hatten und für die er nicht das Geringste konnte.
Seit Rémy fort war, dachte er jeden Tag an ihn. Doch noch nie hatte er ihn so schmerzlich vermisst wie jetzt. Wenn das alles überstanden ist, suche ich ihn, aber diesmal gebe ich nicht eher auf, als bis ich ihn gefunden habe.
Er hatte vieles gutzumachen.
Er trank sein Bier aus, ging zum Schlafraum und kroch zu Isabelle unter die Decken. Sie schlief bereits, und er lauschte dem Geräusch ihres Atems, spürte die Wärme ihres Körpers, bis ihn irgendwann die Müdigkeit übermannte.
Drei Tage später erreichten sie Bitche, eine aus mehreren Dörfern, Abteien und Höfen bestehende Herrschaft inmitten der waldreichen Nordvogesen. Ferry I. und seine Familie residierten in ihrer Stammburg, die auf einem Felsplateau hoch über den Tälern stand und wie ein versteinerter Gigant aus längst vergangenen Tagen über das Land wachte. In Metz hatte Michel erfahren, dass Herzog Simon, inzwischen ein Greis von vierundsechzig Jahren, schwer erkrankt war und kaum noch das Bett verließ. Derweil führte sein Bruder Ferry die Amtsgeschäfte, obwohl Simon dessen Sohn Ferry II. zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Oberlothringen und dem Haus Châtenois stand ein Machtkampf zwischen Vater und Sohn bevor, der spätestens mit Simons Tod ausbrechen würde. Michel hoffte, dass das angespannte Verhältnis zwischen Ferry dem Älteren und Ferry dem Jüngeren keine unabsehbaren Folgen für seine Pläne hatte.
Er ritt an der Spitze der elfköpfigen Gruppe, die sich den gewundenen Weg hinaufquälte, stöhnend über die Hitze. Pater Guy hielt sich wacker, wenngleich er unablässig über die Schlaglöcher schimpfte, die den Reisewagen durchschüttelten. Isabelle und Velin saßen bei ihm und achteten darauf, dass er stets genug zu trinken hatte.
Auf der Zugbrücke wurden sie von den Torwächtern angehalten.
»Wer seid Ihr?«
»Michel de Fleury, Kaufmann und Gildemeister von Varennes-Saint-Jacques. Ich möchte zu deinem Herrn.«
»Er ist nicht da. Er ist vor einer Woche nach Nancy aufgebrochen.«
»Und sein Sohn Ferry?«
»Er ist im Palas. Sprecht mit dem Kastellan, er wird Euch zu ihm führen.«
Die Wächter warfen einen flüchtigen Blick in den
Weitere Kostenlose Bücher