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Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Wolf
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Kollegium leisten können. Der geistliche Stand war von der Teilnahme ausgeschlossen.
    Die Kaufleute, die das meiste Silber beigesteuert hatten, stellten sechs Ratsherren; die Bruderschaften, die beim Kampf gegen Aristide de Guillory die größten Opfer gebracht hatten, die anderen sechs. Die Amtszeit eines Ratsherrn betrug ein Jahr. Danach konnte er erneut kandidieren, falls er dies wünschte.
    Die Wahl dauerte den ganzen Tag und glich einem ausgelassenen Fest. Spielleute und Vaganten unterhielten das Stadtvolk mit Musik und Gaukelspiel, während die männlichen wahlberechtigten Bürger lange Schlangen vor den Urnen unter den Arkaden der Gildenhalle bildeten. Wirte schenkten billiges Bier aus, die Beginen verteilten kostenloses Backwerk, Possenreißer machten derbe Scherze auf Kosten von Adel und Kirche. Im ersten Wahlgang wurden die Ratsherren der Gilde bestimmt, im zweiten die der Bruderschaften. Die Bürger wurden nach Pfarreien und Stadtvierteln aufgerufen. Wer seine Stimme abgab, warf eine farbige Bohne in die Urne seines Kandidaten, einen Tonkrug mit engem Hals, sodass man nicht sehen konnte, wie viele Bohnen er bereits enthielt. Pater Jodocus und vier andere Geistliche wachten darüber, dass alles mit rechten Dingen zuging und niemand mehr als zwei Stimmen abgab.
    Die Bewohner der Unterstadt wählten zum Schluss. Als die letzte Bohne in die ihr bestimmte Urne gefallen war, erklärte Pater Jodocus die Wahl für beendet. Die Priester zerschlugen die Tonkrüge der Reihe nach und zählten mithilfe der Beginen unter den Blicken der ganzen Stadt die Stimmen aus.
    Ein Raunen ging durch die Menge. Mit bloßem Auge war zu erkennen, dass zwei Kandidaten mehr Stimmen hatten als alle anderen. Wenig überraschend waren dies Michel de Fleury und Jean Caboche.
    Zur Vesper standen auch die übrigen Ratsherren fest: Für die Gilde würden Charles Duval, Isoré Le Roux, Aimery Nemours, Eustache Deforest und Adrien Sancere in den Rat der Zwölf einziehen; für die Bruderschaften Archambaud Leblanc, Guichard, der Führer der Weber, sowie die Oberhäupter der Zimmerleute, der Steinmetze und der Bäcker.
    Unter dem Jubel der Menge zogen die Sieger zum Dom, wo sie die Nacht im Gebet verbrachten. Sie knieten vor dem Altar im Hauptschiff und senkten in Demut die Häupter, während die Männer des Domkapitels Weihrauch verbrannten und Mönche aus allen vier Abteien Varennes’ Choräle anstimmten.
    Der duftende Rauch machte Michels Gedanken leicht, er ließ sich vom Gesang davontragen und spürte kaum, wie die Stunden verstrichen. Flüsternd dankte er dem Allmächtigen für die Ehre, die ihm heute zuteilgeworden war, und bat um die Kraft, die vor ihm liegenden Aufgaben zu bewältigen.
    Irgendwann graute der Morgen. Blasses Licht fiel durch die Buntglasscheiben und überzog den Steinboden mit verschwommenen Abbildern des Gekreuzigten. Die Männer des Domkapitels stiegen in die Gruft hinab, trugen den Reliquienschrein mit den Gebeinen des heiligen Jacques herauf und stellten ihn vor den Altar.
    Die Ratsherren erhoben sich. Michel war der Erste, der vortrat. Er legte die Schwurfinger auf den vergoldeten Schrein und sprach Pater Jodocus nach:
    »Bei Gott, den Heiligen und der Jungfrau Maria gelobe ich, Varennes-Saint-Jacques redlich zu dienen, die Menschen dieser Stadt zu schützen und sie kraft meines Amtes vor Gefahr, Krieg und Armut zu bewahren.«
    »Amen«, sagte Pater Jodocus und lächelte.
    Am Abend desselben Tages nahm der Rat der Zwölf seine Arbeit auf.
    Die Ratsherren trafen sich im ehemaligen Bischofspalast, im Saal des alten Schöffenkollegiums, dessen Wände Gemälde der Heiligen schmückten. Es gab viel zu tun: Sie mussten die Verwaltung der Stadt auf Vordermann bringen, denn de Guillory hatte sie in einem beklagenswerten Zustand hinterlassen, und viele städtische Bedienstete vernachlässigten seit Jahren ihre Pflichten. Ferner mussten sie sich einen Überblick über die Steuereinnahmen verschaffen und entscheiden, wie sie künftig zu verwenden wären. Da die Stadtbauern einen Großteil ihrer Ernte verloren hatten und eine Hungersnot drohte, beschlossen sie, von dem Geld in Metz und Épinal Getreide zu kaufen und damit die leeren Kornkammern Varennes’ zu füllen.
    Anschließend teilten sie die wichtigsten Ämter unter sich auf. Jean Caboche wurde der neue Schultheiß und Befehlshaber der Stadtwache. Aimery Nemours übernahm wieder den Zoll; Archambaud Leblanc die Marktaufsicht; Charles Duval, der am meisten von Recht und

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