Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
ein. In der Ecke, hinter einem Pult, kauerte ein Rechtsgelehrter und prüfte Urkunden.
»Ich habe gehört, Ihr wart fleißig«, sagte er, als Michel sich vor dem Schlaflager verneigte. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen.
»Die Stadt hat alles gegeben, was sie hat. Fast fünftausendneunhundert Pfund. Sie gehören Euch, Euer Gnaden.«
»Vereinbart waren sechstausend.«
»Jeder Bürger hat einen Beitrag geleistet, sogar die Tagelöhner und Knechte. Wenn wir noch mehr von ihnen verlangen, drohen ihnen Hunger und Armut. Ich bitte Euch, Euer Gnaden, nehmt unser Geschenk an, wie es ist. Unser ewiger Dank wäre Euch gewiss.«
»Von Eurem Dank kann ich keine Burgen bauen und keine Kriege führen.«
»Aber das Haus Châtenois würde einen treuen Freund gewinnen. Und Freunde sind rar in diesen Zeiten.«
Simon hob die Hand. Der Medicus stand auf und verließ das Gemach. »Freunde sind rar«, wiederholte der Fürst leise. »Da sprecht Ihr ein wahres Wort … Schaut mich an, Herr Gildemeister. Ihr seht einen sterbenden Mann. Der Tod pocht an meine Tür, jeden Tag ein klein wenig lauter. Mit etwas Glück erlebe ich noch das Ende des Sommers. Nacht für Nacht frage ich mich, ob ich ein gutes Leben geführt habe. War ich so gerecht, ritterlich und barmherzig, wie ein Mann meines Standes es sein sollte? Oder erlag ich allzu oft den Verlockungen der Macht?«
»Ihr seid ein guter Herrscher«, sagte Michel. »Einer der besten, die Oberlothringen jemals hatte.«
Wieder lächelte Simon. »Ist das die Wahrheit? Oder sagt Ihr das nur, um mir das Ende zu erleichtern?«
»Ihr habt Euch aus dem Krieg herausgehalten. Dank Euch hatten wir viele Jahre Frieden, während der Rest des Reiches in Chaos und Blutvergießen versank. Das ist die größte Leistung, die ein Herrscher vollbringen kann.«
»Viele sind der Ansicht, die wichtigste Leistung eines Herrschers sei es, Ruhm auf dem Schlachtfeld zu erlangen.«
»Ich bin anderer Meinung.«
Simon hob abermals die Hand. »Setzt Euch zu mir, Herr de Fleury, und tupft mir das Gesicht. Ich schwitze wie ein Grubenarbeiter, es ist grässlich.«
Michel nahm auf der Bettkante Platz, griff nach dem Tuch und tupfte Simon Stirn und Wangen. Der Herzog schloss die Augen und atmete gleichmäßig. Er stank. Die Krankheit arbeitete in seinem Innern und ließ üble Dünste durch die Haut hervortreten. Ob Höriger oder Fürst, dachte Michel, vor dem Tod sind wir alle gleich.
»Ich war in meinem Leben manches Mal eitel, gierig, rachsüchtig und machtversessen«, sagte Simon. »Wenn ich das schon nicht ungeschehen machen kann, möchte ich wenigstens in meinen letzten Tagen ein guter Christ sein. Ich will nicht als Raffzahn und Geizkragen vor die Himmelspforte treten. Ich nehme Euer Geschenk an. Varennes soll seinen Bürgern gehören.«
Plötzlich war Michels Kehle rau und eng. »Ich danke Euch, Euer Gnaden«, brachte er hervor. »Ich danke Euch tausendfach.«
»Ich mag Euch, Herr de Fleury. Ihr seid ein guter Mann, weise und mild. Die richtige Gesellschaft für einen Sterbenden. Ich bitte Euch, bleibt noch eine Weile.«
Michel saß an Simons Lager und tupfte ihm die Stirn, bis der Herzog schließlich einschlief. Der Rechtsgelehrte führte ihn in den großen Saal, wo er ein Dokument anfertigte und mit dem herzoglichen Siegel versah. Es bestätigte den Kauf der Stadt Varennes samt aller Ländereien, Rechte und Einrichtungen durch die Bürgerschaft.
Vorsichtig, als wäre sie eine kostbare und zerbrechliche Reliquie, brachte Michel die Urkunde zur Gildehalle.
Kurz darauf läuteten überall in der Stadt die Glocken.
Die Menschen strömten auf die Straßen und feierten bis in die Nacht.
Am nächsten Morgen versammelten sich über zweitausend Männer und Frauen auf dem Domplatz und wählten im strahlenden Sonnenschein ein neues Schöffenkollegium, das von nun an Rat der Zwölf genannt wurde.
Michel, seine Schwurbrüder und die Führer der Handwerker hatten bis weit nach Mitternacht zusammengesessen und ein Wahlverfahren ausgearbeitet, das den besonderen Umständen ihres Freiheitskampfes gerecht wurde. Anders als beispielsweise in Metz oder Köln durften sich nicht nur Mitglieder der städtischen Oberschicht zur Wahl stellen, sondern jeder freie Mann, der entweder der Gilde oder einer Bruderschaft angehörte. Darüber hinaus musste ein Anwärter auf einen Ratssitz mindestens dreißig Jahre alt und von tadellosem Leumund sein, das Bürgerrecht besitzen und sich die ehrenamtliche Arbeit für das
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