Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Sie fehlte ihm sehr, und dass sie gezwungen waren, sie hier zurückzulassen, machte ihn traurig. Wenigstens würde sie auf dem Gottesacker nicht allein sein. Ihre Eltern ruhten hier, ihr älterer Bruder und viele andere Menschen, die sie gemocht hatte.
Irgendwann murmelte sein Vater etwas, so leise, dass Michel es fast nicht verstehen konnte. »Vergib mir, Ameline. Ich hoffe, du verstehst, warum ich das tun muss.«
Er wandte sich ab, und für einen Moment sah Michel den Schmerz in seinem Gesicht. »Lasst uns gehen«, sagte er.
Er nahm Vivienne auf den Arm, und sie eilten über die Weide der Allmende und von dort aus zum Wald, der schwarz wie ein undurchdringlicher Grenzwall vor ihnen aufragte. Am Waldrand entlang stapften sie in Richtung Osten, wo, wie Michel wusste, die Grenze von Guiscards Land verlief.
Es fing an zu schneien, dicke Flocken, die still auf das weiße Land herabsanken. Obwohl die Wanderung durch den tiefen Schnee äußerst beschwerlich war, gönnte ihr Vater ihnen keine Rast, selbst dann nicht, als Jean langsamer und langsamer wurde und sich beklagte, seine Füße täten weh. »Weiter, Jean«, trieb er ihn an. »Du musst durchhalten.«
Nur einmal blieb er kurz stehen, um Vivienne, die ihm schwer geworden war, in ein Tragetuch zu stecken, damit er die Arme frei hatte und einen Wanderstock benutzen konnte. Sie war erstaunlich tapfer. Michel hatte erwartet, dass sie ununterbrochen weinen würde, doch sie blieb die ganze Zeit mucksmäuschenstill, so, als hätte sie genau verstanden, was ihr Vater ihnen gesagt hatte. Irgendwann fielen ihr die Augen zu, und sie schlief ein.
Schließlich kamen sie zu dem Bach, der die Grenze von Guiscards Ländereien bildete. Er floss durch einen Graben in den verschneiten Wiesen und verschwand beinahe unter Sträuchern und Brombeerhecken, in denen Eiszapfen glitzerten. Es war nicht schwer, ihn zu überqueren, denn er war zugefroren, und das dicke Eis trug ihr Gewicht. Während Michel hinüberging und die Böschung emporkletterte, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er noch nie so weit von zu Hause fort gewesen war.
Auf der anderen Seite ließ sich Jean auf einen umgestürzten Baumstamm fallen. »Ich kann nicht mehr«, verkündete er müde und trotzig.
»Uns scheint niemand zu folgen«, sagte ihr Vater, während er nach Westen blickte. Fleury war schon lange nicht mehr zu sehen – das Mondlicht fiel auf unbewohnte Hügel. »Ich denke, eine kurze Rast können wir uns erlauben. Hilf mir mit dem Korb, Michel.«
Michel nahm ihm den Korb ab, damit er sich setzen konnte, ohne Vivienne zu wecken. Der Behälter war nicht schwer, denn ihr Vater hatte nur die notwendigsten Sachen mitgenommen: Nahrung, warme Decken, einige Werkzeuge, natürlich den Beutel mit den Silbermünzen und das Schwert.
Während sie sich mit Brot und Ziegenmilch stärkten, fragte Jean missmutig: »Müssen wir noch lange laufen?«
»Wir sind noch einige Stunden unterwegs«, antwortete ihr Vater. »Aber wenn wir erst das Moseltal erreicht haben, wird der Weg leichter.«
»Wohin gehen wir?«, fragte Michel.
»Nach Varennes-Saint-Jacques.«
Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Varennes war eine Stadt an der Mosel, einen Tagesmarsch vom Lehen ihres Herrn entfernt. Michel war freilich noch nicht dort gewesen, hatte aber schon viel davon gehört. Zweimal im Monat kam ein fahrender Kaufmann aus Varennes nach Fleury und verkaufte den Bauern Salz, Fisch und Wetzsteine. Sein Name war Herr Caron, und er erzählte stets erstaunliche Geschichten von seiner Heimatstadt, wenn er abends in der Dorfschenke saß.
»Verstehst du, warum wir fortgehen müssen?«, fragte sein Vater.
»Wegen des Herrn«, vermutete Michel.
»Solange Guiscard über Fleury herrscht, sind wir dort unseres Lebens nicht sicher. Diesmal hat es Pierre erwischt, aber wer weiß, wen es nächste Woche trifft. Vielleicht mich, vielleicht sogar dich oder Jean. Ein kleiner Fehler genügt, und man wird hart und gnadenlos bestraft – ihr habt es ja heute Morgen gesehen. Deshalb können wir nicht in Fleury bleiben. Ich würde es nicht ertragen, wenn Guiscard euch etwas antäte.«
Vivienne regte sich und blickte verwirrt um sich. Ihr Vater strich ihr über das Haar. »Schlaf weiter«, murmelte er, und ihr Kopf sank wieder gegen seine Brust.
»In Varennes beginnen wir ein neues Leben«, fuhr er fort. »Ich suche mir Arbeit in einer Werkstatt oder auf den Äckern vor der Stadt – Herr Caron sagt, dass die reichen Handwerker und Stadtbauern
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