Das Salz der Mörder
Fußmarsch vom Bahnhof bis zu Omis
Häuschen in Waldfrieden ebenfalls eine Stunde veranschlagen konnte, verschwand
ich jedes Mal weit aus dem Kontrollbereich meiner Mutter, die die ganze Woche
in einem Nobelrestaurant am Alexanderplatz als Chefin (Originalton Ost:
Objektleiterin) schuftete. Montags war geschlossen. „Ruhetag“ nannte man das.
Bei
meiner Oma durfte ich machen, was ich wollte. Ich durfte ihr uraltes
Röhrenradio bis zum Anschlag aufdrehen, wenn meine Beatles über RIAS ihr „She
Loves You“ schreien, durfte abends länger auf der Straße bleiben als die anderen,
mit denen ich spielte und ich durfte baden, so oft und so lange ich es für
richtig hielt. Unser See lag nur zwei Minuten vom Häuschen entfernt hinter
dichtem Schilf versteckt, doch den schmalen Strand konnte Omi trotzdem gut
einsehen, obwohl sie dabei auf den Dachboden klettern und stundenlang durch
eine kleine Luke schauen musste, um mich zu beaufsichtigen. Omi liebte mich
animalisch. Ich war ihr einziges Enkelkind, und sie trug mich auf Händen.
Alles, was ich haben wollte, brachte sie mir vom Einkauf mit. Vor allem
Lakritze. Lakritze fraß ich zentnerweise. Zu meinem fünften Geburtstag schenkte
sie mir mein erstes Fahrrad, mit dem ich unser kleines Dorf unsicher machte.
Zum Dank dafür stellte ich ihr meine erste Freundin vor: Susanne. Susanne war
drei Jahre älter als ich - sie war schon acht. Fast jeden Tag nahm mich Susanne
mit in den Wald. Dort zogen wir uns aus, setzten uns nackt auf die Sachen,
damit die spitzen Kiefernnadeln nicht in unsere kindlichen Weichteile piksten
und sahen uns an. Wir sahen uns einfach an, ohne was zu sagen – fünf oder zehn
Minuten lang. Manchmal berührten wir uns auch – meistens zwischen den Beinen.
Weil ich da etwas hatte, was bei Susi fehlte und sie da etwas hatte, was bei
mir nicht zu finden war. Dessen ungeachtet fühlte ich jedes Mal ein wohliges
Kribbeln, wenn sie mich an jener Stelle streichelte, die bei ihr nicht
mitgewachsen war, und mein Stummel dadurch immer größer und größer wurde. Was
Susi damit bezweckte, wusste ich nicht. Vielleicht war es ihr damals schon bewusst,
dass man davon angenehme Gefühle bekommen konnte.
Einmal
überraschte uns Vati im Wald. Vati und Mutti kamen während ihres Urlaubes hin
und wieder für zwei, drei Wochen nach Waldfrieden. Irgendwie hatte sich Susi
diesmal einen falschen Platz für unsere Sauereien ausgesucht. Wir saßen in
einer Schonung unter jungen Kiefern, nicht weit entfernt von dem Weg, den Vati
gelegentlich kreuzte, wenn er an den See zum Angeln wollte. Wie gesagt, Susi
und ich saßen nackt auf unseren Klamotten und guckten uns wie immer schweigend
von oben bis unten an. Plötzlich hörten wir Schritte. Wir bekamen es mit der
Angst zu tun und verhielten uns mucksmäuschenstill. Jemand stocherte mit einem
verdorrten Ast die trockenen Kiefernnadeln auseinander. Der Ast kam näher. Dann
sahen wir Sandalen, in denen die Füße eines Mannes steckten. Dummerweise kamen
mir diese Sandalen sehr bekannt vor. Der Mann stellte seinen Knüppel an einen
Baum und bückte sich – zwei Meter vor Susi und mir, nur ein paar dünne Zweige
verdeckten uns noch. Er streckte seine Hand aus und wischte vorsichtig die
trockenen Nadeln auf dem sandigen Boden beiseite. Wahrscheinlich suchte er
Pilze. Wie aus heiterem Himmel schreckte der Mann hoch und starrte uns
entgeistert an. „Was ist denn das für eine sonderbare Pilzart? Die kenne ich ja
noch gar nicht. Oder doch? Zwei kleine Giftpilze. Na, schau an, die können
sogar laufen. Halt, halt, stehengeblieben, ihr wollt wohl eure Sachen hier im
Wald liegen lassen? Jetzt kommt mal schön her zu mir, ihr beiden.“ Susi und ich
traten mit gesenkten Köpfen verängstigt auf die Waldlichtung und hielten uns
alles zu, was es zuzuhalten gab. Mein Vati stelle sich vor uns hin, stützte
seine Arme gebieterisch in die Hüften und tat uns mit ernster, drohender Miene
folgendes kund: „Wenn ihr euch nicht ganz schnell anzieht, und wenn ihr euch
obendrein noch eine dumme Ausrede für euren Quatsch, den ihr hier treibt,
einfallen lassen wollt, dürft ihr nicht mit mir auf den See hinaus zum Angeln.
Habt ihr das verstanden? Oder soll ich euren Müttern von dem Sonnenbad unter
dichten Kieferzweigen berichten?“
Schweigend
schüttelten wir die Köpfe. Seine gesamte Angelausrüstung lag neben dem Weg. Als
wir uns angezogen hatten, nahm er die Ruder und Angeln. Mir gab er den kleinen
braunen Lederkoffer, in dem er Posen, Haken,
Weitere Kostenlose Bücher