Das Salz der Mörder
Wahrscheinlich gehörten die zu einem Dorf. Wiederum hielt ich an, um im
Atlas nachzusehen, wiederum ohne Erfolg. Dieses Dorf schien auch nicht zu
existieren. In großen blauen Buchstaben auf Seite 6 meiner Karte las ich
„Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer“. Also mussten demnach die
Nordseewellen hier irgendwo rauschen.
Verärgert
warf ich die nutzlose Straßenlektüre auf die rechte Ablage und wandte mich um.
Auf dem Rücksitz schlief meine Tochter. Ihr Kopf lag auf einem Federkissen.
Eine blonde Locke bedeckte ihre geschlossenen Augen. Die Steppdecke war
heruntergerutscht. Ich löste meinen Gurt und legte die Decke behutsam wieder
über sie. Mit verkniffenem Mund schlief sie unbeirrt weiter. Zwar wusste ich,
dass sie nicht vor zehn Uhr aufwachen würde, trotzdem bemühte ich möglichst
leise zu sein. Beinahe geräuschlos stieg ich aus meinem überstrapazierten Opel.
Obwohl jetzt die Sonne schon etwas höher stand, war es doch ziemlich frisch an
diesem Sonntagmorgen im August. Umständlich zog ich mein zerknittertes Jackett
aus dem Kofferraum. Dann verschloss ich meinen Wagen und erforschte in aller
Ruhe die Gegend. Nur ein paar Schritte vom Auto entfernt hatte ich eine
wunderschöne Aussicht auf die Nordsee. Frohgemut ging ich weiter. Ich
betrachtete das schäumende Schauspiel der tanzenden Wellen, die mit den frühen
Sonnenstrahlen spielten und den noch dunklen westlichen Horizont auf glitzernde
Weise erhellten. Irgendwo bellte verschlafen ein Hund.
Die
Hauptstraße teilte das Dorf in zwei gleiche Teile. Die linke Seite lag zirka
fünfzig Meter von der Küste entfernt, die auf braunem Fels steil zur See
abfiel. Der Höhenunterschied vom Ufer bis zum ersten Haus war sicher
ausreichend, um die Bewohner vor Hochwasser zu schützen. Die mit Reet bedeckten
kleinen weißen Häuser standen so liebevoll aneinandergereiht, wie man sie auf
farbigen Klebebildchen in alten Poesiealben bewundern kann. Jedes hatte seinen
eigenen Garten, bepflanzt mit frisch gemähtem Zierrasen und umzäunt von sauber
verschnittenen Ginsterbüschen. Die vielen bunten Blumen in den Beeten erweckten
den Anschein auf den kommenden Tag zu warten. Das Land schlief, behütet vom
morgendlichen Dämmerlicht.
Auf
der anderen Seite, hinter den Häusern, breiteten sich weitläufige Gemüsefelder
aus, die am Wald endeten, aus dem ich kam. Alles war sehr gepflegt und
sorgfältig bewirtschaftet.
Ich
spazierte knapp zwanzig Minuten durch das herrliche Gelände, atmete die salzige
Meeresluft tief in meine Lungen ein und war überwältigt von der Einfachheit der
Natur, die gleichzeitig mit ihren vielfältigen Gewalten so freigiebig zu
protzen schien. Irgendwo krähte einsam ein Hahn.
Es
war erst kurz vor fünf. Ich hatte es nicht eilig. Doch wenn Gaby wach wird,
überlegte ich, sollten wir auf jeden Fall an Ort und Stelle sein, und ein
deftiges Frühstück müsste auch für uns bereitstehen. Das Hotelzimmer hatte ich
immerhin vier Wochen vorher gebucht, so dass nach menschlichem Ermessen nichts
mehr schief gehen konnte.
Natürlich
schlummerte meine Kleine noch, als ich zum Auto zurückkam. Wiederum öffnete und
schloss ich leise die Wagentür, und bemühte mich ebenso leise zu starten. Ich
bog rechts in die Hauptstraße ein und fuhr langsam durch das friedliche
Dörfchen. Ja, ich fuhr ziemlich langsam, einerseits um dessen Bewohner nicht
unnötig mit frühem Autolärm zu belästigen, andererseits um nochmals diese
malerische Landschaft zu genießen. Ich glaube, die Straße zog sich mehr als
einen halben Kilometer hin, parallel zum Meer. Was mir indessen auffiel: ich
sah keinen Sportplatz, keinen Supermarkt, keine Gastwirtschaft und zu meiner
größten Verwunderung - es gab nicht einmal eine Kirche in diesem Ort.
Plötzlich
ein ohrenbetäubender Knall! Dann ein Zweiter! Vorbei schien die verträumte
Stille. Geflügelstimmen trompeteten ein energisches Echo durch das sommerliche
Dorf. Man musste befürchten, dass jeden Moment die ganze Gemeinde auf den
Beinen sein und sich schaulustig um mein unscheinbares Auto versammeln würde,
so laut schallte es für einige Sekunden.
Da
ich, wie schon erwähnt, nicht sehr schnell fuhr, bemerkte ich erst nach
etlichen Metern, dass mein Fahrzeug anfing zu schlingern. Ich stoppte und stieg
aus. Vier platte Reifen? Alle vier Räder futsch? Mit all meinen übernächtigten
Kräften hoffte ich den Wagen an die rechte Bordsteinkante schieben zu können,
was mir freilich nicht gelang. Ungläubig lief ich ein
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