Das Salz im See 1: Ein teuflischer Plan (German Edition)
unter den Armen vergraben, bäuchlings auf der Drehscheibe, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. War er einem Phantom nachgejagt, einer Sinnestäuschung? Er hob den Kopf, starrte in die Richtung, aus der das vermeintliche Leuchten ihn eben noch lockte und war nicht einmal enttäuscht, als er nichts als Finsternis gewahrte. Vielleicht wäre es eine Gnade, wenn er den Verstand verlöre, bevor er zugrunde ging. Eine nie erlebte Mattigkeit hielt ihn am Boden. Sollte er hier sterben oder versuchen, den Weg zurück zum aufsteigenden Schacht zu finden, den Ort, den er als einzigen Fixpunkt in diesem verhaßten Dunkel empfand? In welcher Richtung lag er? Er wußte es nicht genau, der Sturz hatte ihn aus seiner Bewegungsrichtung gebracht. Die Neigung der Drehscheibe verriet, daß ihr tiefster Punkt sich links voraus befand, er also in einem Winkel zu ihrem Gefälle lag. Er richtete sich keuchend auf, versuchte, auf der Schräge festen Stand zu gewinnen. Er wollte anhand der Neigung der Drehscheibe die Position bestimmen, die er einnehmen mußte, um zurück zur Felswand zu gelangen, als er es plötzlich sah: Dort, in seiner Blickrichtung, erschien, kaum wahrnehmbar, ein winziger, hektisch flackernder horizontaler Streifen! Er wischte mit der Hand vor den Augen hin und her – tatsächlich, das war keine Sinnestäuschung! Dieser Streifen sendete ein schwaches Leuchten, er war Realität! ‚Warum ein Streifen? Eben war es ein Quadrat! Denk nach! Es gibt eine Erklärung!‘
In kleinen Seitwärtsschritten gewann er, den flackernden Lichtschein nicht mehr aus den Augen lassend, auf der Schräge der Drehscheibe an Höhe. Mit jedem Schritt wuchs der Streifen, bis er schließlich dieses seltsam schimmernde, unregelmäßig, dennoch irgendwie rhythmisch aufleuchtende Quadrat bildete, wie er dies vor seinem Sturz zuletzt gesehen hatte. Er ging in die Knie, das Quadrat wurde zum Rechteck. Das war die Erklärung! Das Flackern mußte aus der Tiefe des Aufzugschachtes kommen. Geriet er aus der Längsachse des Schachts, so änderte sich die Geometrie des sichtbaren Leuchtens, bis es schließlich ganz verschwand. Seine Leuchtstärke war so gering, daß die Schachtwände im Dunkeln blieben, Entfernung und Größe der Lichtquelle sich jeglicher Einschätzbarkeit entzogen.
Sander, vor Aufgeregtheit außer Atem, benötigte eine Weile, die Tragweite seiner Beobachtung zu erfassen. Eine Ahnung sagte ihm, daß dort in der Tiefe der Schlüssel zu seiner Rettung läge. Entschlossen, doch nun wieder Schritt für Schritt vorsichtig setzend, machte er sich an den Abstieg, bis er endlich den unteren Schachtmund erreichte. Der Boden der Kaverne war dort tatsächlich abgesackt, er mußte sich in die Höhe stemmen, um den Schachtgrund zu erklimmen. Wo war nur das Gleis geblieben? Egal, tief dort unten wies ihm ein milchiges Flackern den Weg! Sander beobachtete mit Schrecken, daß es schwächer zu werden schien. Er mußte zu ihm gelangen, bevor es gänzlich erlosch! Er setzte in beschwerlicher Rückenlage, die Füße voran, auf allen Vieren den Abstieg fort. Nach etlichen Metern stieß er auf das Feldbahngleis des Schrägaufzugs. Die Steinlawine hatte es aus der Verankerung und mit sich ein Stück weit in die Tiefe gerissen. Von Schwelle zu Schwelle sich abwärts tastend, gewann er rasch an Tiefe, bis sein rechter Fuß ins Leere stieß. Schon wieder ein Abgrund?
Sander rückte näher an die Kante heran, um zu erkunden, was ihn dahinter erwartete. Er senkte tastend den Fuß in die Tiefe, rückte Zentimeter um Zentimeter nach, bis dieser plötzlich festen Grund signalisierte. Das Loch mochte nicht tiefer als vierzig, allenfalls fünfzig Zentimeter sein, kein ernstzunehmendes Hindernis also! Schon bald hatte er herausgefunden, daß der Rand einen perfekten Kreis bildete. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Er hatte die Stelle erreicht, an der vor dem Beben der mächtige Stamm das Ende der Aufzugstrecke markierte! Den Stamm hatte es offensichtlich zerfetzt, an seiner Stelle häufte sich nun Geröll in der Vertiefung. Ein Gefühl grenzenlosen Triumphes brandete in ihm auf – er hatte in vollkommener Finsternis den unteren Querstollen erreicht! Erst jetzt fiel ihm Weißenfels ein. Urplötzlich empfand er tiefe Scham; die ganze Zeit hatte er ausschließlich an sich gedacht! Hier, an dieser Stelle, hatte Weißenfels ihm den Vortritt gewährt: ‚Sie zuerst!‘ Er hörte noch immer den Widerhall der jugendlichen Stimme. Sander verspürte den Drang, den
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