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Das Schatzbuch der Köchin (German Edition)

Das Schatzbuch der Köchin (German Edition)

Titel: Das Schatzbuch der Köchin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martine Bailey
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oveday blinzelte und kniff die Augen wieder zu. Er spürte das Wasser unaufhaltsam wie Tränen über sein Gesicht strömen. Er saß eingeklemmt auf dem hinteren Fußbrett der Kutsche und wurde von jeder Wurzel und jedem Stein auf der Straße ordentlich durchgeschüttelt. Der Regen rann in seinen Kragen und scheuerte die alte Verletzung auf, sodass sie unendlich schmerzte. Das war wirklich der kälteste Ort, an dem er jemals gewesen war. Manchmal war er überzeugt, schon bald zu sterben, doch seine Knochen ließen ihn nicht im Stich, und sein Haar wurde nicht weiß. Aus irgendeinem merkwürdigen Grund hielten seine Vorfahren ihn an diesem schrecklichen Ort am Leben.
    Er war schon heute früh völlig durchnässt worden, als er neben der Kutschentür auf die anderen wartete. Die einzigen Momente voller Wärme waren die mit Biddy. Sie beschimpfte ihn nicht, sondern redete mit ihm auf Augenhöhe wie mit einem Freund oder Cousin. Ihre Augen waren fürchterlich blass, das stimmte schon, aber sie hatten nicht, wie er es früher immer geglaubt hatte, die Macht, seinen Schädel mit gefährlichen Geistern zu durchbohren. Und sie lachte mit ihm. Sie neckte ihn, wenn er von zu Hause erzählte.
    «In meinem Land Regen so warm wie Tee», versicherte er ihr, während sie sich unter einem Vordach zusammendrängten und auf die Herrin warteten.
    «Jetzt nimmst du mich aber auf den Arm, Mr. Loveday. Wie kann Regen denn warm sein?»
    Er erzählte ihr, wie man ein Blatt von der Lontaropalme pflückte, so groß wie ein Tablett, um es über den Kopf zu halten und sich vor dem teewarmen Regen zu schützen. Sie schüttelte wieder den Kopf.
    «Ich weiß nicht, wie du dir so was ausdenken kannst, Mr. Loveday. Unter einem Blatt Schutz suchen. Du denkst bestimmt, ich bin von gestern, dass ich dir so was glaube.»
    Mr.
 Loveday. Das gefiel ihm. Für diesen Moment fühlte er sich dann immer wie ein echter Mann aus Fleisch und Blut und nicht wie ein flüchtiger Geist. Dann streckte sie sogar die Hand aus und berührte seinen Arm. Er lehnte sich gegen die nasse Kutsche. Lovedays Augen wurden plötzlich richtig heiß. Zum ersten Mal, seit er diese fremde Welt betreten hatte, berührte ein anderer Mensch ihn freundschaftlich. Auch jetzt spürte er noch Biddys Finger auf seinem Arm, und das wärmte ihn mehr als tausend Feuer. Wenn sie ihn nur gekannt hätte, wie er einst gewesen war – als Jäger, als Krieger, als Mann!
    Während die Kutsche sich schaukelnd und wiegend voranbewegte, fühlte sich der Geist, der in ihm lebte – seine
Kraft
 –, wie ein Vögelchen, das in einem Netz gefangen war. Er zwang seine Gliedmaßen, auf dem schmalen Brett das Gleichgewicht zu halten, und ließ zugleich den Geist ziehen, wohin er wollte. Schon bald befanden sich Regen, Schmerz und Elend an einem anderen Ort – doch hier, in dem klaren, türkisfarbenen Wasser zerrten die Wellen an ihm und schlugen krachend im rhythmischen Takt des Herzschlags, der das Meer hier antrieb.
    Er war mit seinem Stamm auf der Jagd und stand hoch oben auf der Plattform des Harpuniers. Ein warmer Lufthauch erfrischte seinen Körper jedes Mal, wenn das Boot eine Welle durchpflügte. Sie setzten gerade einem riesigen
bělelā
nach, einem schwarzen, vernarbten Teufelsrochen, der unter der Wasseroberfläche dahinschoss. Angst und Erregung vermischten sich in seinen Adern. Sie jagten ein Monster, das so lang war wie drei große Männer und eine noch größere Spannweite hatte. Es war leicht, ihn zu treffen. Er brauchte nur den rechten Arm zu heben und die Harpune direkt in den Rücken des Tiers zu jagen. Die Harpune blieb in dem schwarzen, schimmernden Fleisch stecken.
    «Los, und jetzt noch einen Haken. Schnell, schnell!», schrie er triumphierend und hielt das zuckende Seil umklammert. Aus dem Augenwinkel jedoch sah er, wie sein jüngerer Bruder Surti von der Plattform auf den Rücken des Tieres sprang. Er hielt einen Fischerhaken in der Hand. Plötzlich und bevor er eine Warnung ausstoßen konnte, machte das Ungetüm eine Bewegung. Der riesige
bělelā
hob seine beiden großen Schwingen und schlang sie fest um Surtis Körper, der niedergedrückt wurde und in der Umarmung gefangen war wie eine Auster in der Schale. Der Junge schrie erstickt auf, und Loveday musste tatenlos zusehen, wie sein entsetztes Gesicht flach gegen die nachtschwarze Haut des Tiers gedrückt wurde. Dann zog der
bělelā
mit aller Macht an der Harpune, riss sich los und erzitterte ein letztes Mal wie zum Abschied,

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