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Das Schatzbuch der Köchin (German Edition)

Das Schatzbuch der Köchin (German Edition)

Titel: Das Schatzbuch der Köchin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martine Bailey
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ehe er unter der Wasseroberfläche verschwand.
    Loveday blickte sich überrascht um. Die Mannschaft drängte sich hinter ihm zusammen und starrte in die weiße Gischt, in die der
bělelā
verschwunden war, den Jungen fest im Griff seiner Schwingen. Jemand musste etwas tun. Das lose Seil zu seinen Füßen wickelte sich schneller ab als eine Schlange, die sich ins Unterholz zurückschlängelte. Loveday griff nach einer zweiten Harpune und rannte zum vorderen Ende der Plattform. Er sprang hinter dem Seil her. Das Wasser ergoss sich in einem Schwall über ihm, und er packte die Harpunenleine und hielt sie fest. Das Seil zog ihn mit aller Kraft unter Wasser, wo der monströse
bělelā
sich am anderen Ende drehte und wand. Bestimmt lockert sich die Harpune, dachte er. Doch sie blieb stecken. Er wurde unter Wasser gezogen und entfernte sich schnell von dem sonnenwarmen Flachgewässer hin zu den eisigen, indigoblauen Tiefen. Ich werde sterben, redete er sich ein. Lieber sterbe ich, als meinen kleinen Bruder zu verlieren. Ich werde dieses Seil niemals loslassen.
    Doch er brauchte Luft. Seine Brust brüllte vor Schmerz, und sein Kopf fühlte sich so groß an wie eine Wassermelone. Die Zeit verging und dehnte sich wie ein Netz, das einen riesigen Fang umspannte. Der
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zuckte und tanzte, um dem Zug des Seils zu entkommen. Eine fürchterliche Dunkelheit verschleierte Lovedays Blick. Dann, wie ein Kind, das auf die Welt geholt wird, spürte er wieder Sonnenlicht, das seinen Rücken wärmte. Luft und Licht brachen mit Macht über ihn herein. Er keuchte und blinzelte, schnappte verzweifelt nach Luft, bis der Schmerz in seiner Brust nachließ. Das Seil hielt er immer noch fest umklammert. Er schaute sich um. Loveday konnte wohl die Gestalt des
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sehen, die unter der Wasseroberfläche zittrig dahinschoss. Seine Schwingen bewegten sich frei. Wo war Surti? Er war verschwunden. Ertrunken, bestimmt ertrunken, antwortete die grimmige Stimme in seinem Kopf. Sie waren in das Revier des
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eingedrungen, wo das Tier jetzt wieder Plankton fraß. In einiger Entfernung schaukelte das Boot auf den Wellen, und die Männer drängten sich an der Reling.
    Ehrgefühl regte sich in ihm. Er musste Surti rächen. Wie ein wilder Hai warf er sich herum und auf den Kopf des Tiers. Es dauerte nur einen Augenblick, seine Harpune tief in das Gehirn des
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zu rammen und ihn zu töten. Einen Moment lang genoss er das Gefühl hitziger Befriedigung. Er hasste dieses Tier, er wollte es weich prügeln, zu Brei schlagen, weil es einen unschuldigen Jungen umgebracht hatte.
    Kurz darauf kam die Mannschaft hinzu und hievte das Tier aus dem Ozean. Sie hoben den
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hinauf in die luftige Welt der Menschen. Loveday sah zu, wie die Männer die hohle Blase des Körpers aufschlitzten und darin nichts fanden außer Plankton. Warum hatten die Götter ihm das angetan? Er fühlte sich schwach und verwirrt. Die Sonne ging bald unter, und die Wellen wogten um ihn auf und nieder. Er schaute über das unruhige Wasser und wurde doch die ganze Zeit von dem blassen Gesicht des Jungen verfolgt.
    «Wir müssen fort», sagte Koti, sein Kapitän, und die Worte ließen einen quälenden Schmerz in Lovedays Seele erwachen.
    «Nein!», widersprach er. «Warte.» Sie warteten also, während die Sonne wie eine rote Scheibe im Meer versank. Er betete, bot dem Gottvater
Bapa Fela
alles an. Jedes Geschenk, jedes Opfer. Er musste Surti lebend finden. Sonst war sein glückliches Leben für immer vorbei.
    Als würde er aus einer Trance erwachen, hörte er hinter sich Tumult und einen gellenden Schrei. Die Männer zogen etwas über die Reling. Die Hoffnung machte ihn fast blind, als er sich durch die aufgeregte Mannschaft drängte. Dann stolperte aus der Mitte Surti. Er war nackt und bibberte vor Kälte, und am Arm blutete er – doch er lebte! Loveday lief zu ihm und packte ihn an den Schultern. «Du dummer Junge!», schalt er ihn. «Du lebst, aber das hast du nicht deiner Dummheit zu verdanken. Das verdankst du nur den Göttern.» Und er umarmte den Jungen und schwelgte in dem Gefühl, das zähe kleine zappelige Leben in diesem Körper zu spüren.
    Nach einem Schluck Palmwein erzählte der Junge, wie der
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ihn losgelassen habe, sobald er untergetaucht war. Er war wieder nach oben zum Licht geschwommen, doch weil er benommen war, hatte er sich in den Seilen verfangen. Dort hing er nun und schlug gegen den Schiffsrumpf, während das Boot seiner Beute nachsetzte.

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