Das Schatzbuch der Köchin (German Edition)
hatte keine Ahnung, wie so ein Säufer war.
«Und Brüder?», fragte sie plötzlich.
«Ich hatte mal welche. Jetzt sind sie alle fort.» Ich zählte sie an den Fingern ab. «Brüder und Schwestern. Sieben von ihnen hat Gott zu sich geholt.»
«Der Tod wirft einen langen Schatten, nicht wahr?», sagte sie. «Ich habe einen Bruder. Am Sterbebett meiner Mutter habe ich ihr versprochen, ihn mein Leben lang zu lieben und zu umsorgen.» Danach verstummte sie, und ich konnte nur sehen, wie ihr Gesicht im schwindenden Tageslicht auf und ab wippte.
«Du kannst also zählen», sagte sie plötzlich. «Und lesen kannst du auch?»
Wie sollte ich sonst ein Abendessen für dreißig zubereiten, wenn ich nicht zählen konnte? Oder lesen, wenn wir schon dabei waren. Wo sollte ich anfangen? Ich erzählte ihr von der Witwe Trotter, die in dem hübschen Cottage am anderen Ende von Scarth lebte. Von klein auf hatte ich ihr Bündel jede Woche die vier Meilen zum Markt geschleppt und abends wieder zurück, nur für ein paar Mundvoll warmes Essen. Als ich das erste Mal ihr mit Kräutern gekochtes Kaninchen kosten durfte, verlor ich vor Vergnügen fast das Bewusstsein. Danach lungerte ich jeden Tag in ihrem Häuschen herum, half ihr beim Putzen, Kochen und Backen. Meine Ma sagte, ich hätte insgeheim geplant, das versteckte Geld der Witwe zu klauen, doch ihr Sohn verjagte mich irgendwann.
«Und hattest du nicht ein Auge auf den Sohn geworfen?», unterbrach meine Herrin mich plötzlich.
«Warum? Ich war damals ja noch ein Kind», sagte ich. Und wieso sollte ich eine gute Witwe um ihre Ersparnisse bringen?, hätte ich fast hinzugefügt. Ich war nämlich gar nicht hinter einem Mann her. An den Nachmittagen nämlich, wenn das Zinn glänzte und das Essen für den Sohn auf dem Feuer kochte, holte Witwe Trotter ihre Lesefibel hervor.
«Welcher Lohn konnte wertvoller sein? So lernte ich lesen», sagte ich. Wieder schwieg meine Herrin.
«Und was genau hast du gelesen?», fragte sie.
«Ich las
Goody Two Shoes
.»
«Ah, dieses unsäglich moralische Machwerk. Was hast du davon gehalten?»
«Ich fand, Margery Meanwell war eine richtige kleine Hexe.» Dabei warf ich meiner Herrin einen kurzen Blick zu, doch ich konnte ihre Miene nicht erkennen.
«Das stimmt. Sie hatte jedenfalls so viel gesunden Menschenverstand, einen reichen Mann zu finden, der sie aus der Gosse holte. Und welche anderen Schätze besaß die edle Witwe noch?»
«Nun, ich habe
Robinson Crusoe
gelesen – das ist ja mal eine Geschichte. Und
Pamela
auch.»
«Und welches Buch hat dir am besten gefallen?»
«Meine liebste Schriftstellerin ist Mrs. Haywood.
Fantomina
», fügte ich flüsternd hinzu.
Ihre Ladyschaft lachte leise. «Ist sie nicht die Dame, die Mr. Beauplaisir in verschiedenen Verkleidungen nachstellt?»
«So ist es, Melady.» Wir lächelten einander wissend an, denn die Geschichte war wirklich delikat. «Aber am besten gefällt mir Mrs. Haywoods
A Present for a Servant Maid
. Darin stehen einige sehr kluge Ratschläge, wie man Essen ansprechend anrichtet. Es ist ein Wunder, was diese Frau alles weiß.»
Das brachte meine Herrin zum Lachen, doch es klang diesmal nicht so boshaft wie vorher. «Du bist für deine Stellung im Leben jedenfalls gut gerüstet, Obedience. Aber warum bist du nicht bei der geschätzten Witwe geblieben?»
Ich erzählte ihr, Witwe Trotters Sohn habe geheiratet, und sie wollte darum in die Stadt ziehen und ihm ihr Haus überlassen. Danach war ich arg niedergeschlagen, denn mit zwölf Jahren hatte ich wohl lange genug nach Ausreden gesucht, um nicht mit meiner Mutter und Charity Kohlen sammeln zu gehen. Mir kam es vor, als erfüllte mir eine gute Fee meinen größten Wunsch, als Witwe Trotter erzählte, in Mawton Hall bräuchten sie ein Küchenmädchen.
«Also musste ich keine Kohle sammeln und verließ meine Familie», sagte ich abschließend. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich alles andere als den Mund gehalten hatte.
«Um in diesem alten, verrotteten Kasten zu schuften?», schnaubte sie.
Darauf antwortete ich nicht, denn ich war nicht ihrer Meinung. Überhaupt nicht. Als ich zum ersten Mal die Ansammlung der Türme und die längs unterteilten Fenster sah, kam es mir vor, als hätte eine Geschichte zu einem glücklichen Ende gefunden. Jetzt aber, wenn ich von meiner Lehrzeit und meinem Bemühen voranzukommen erzählte, kam es mir unbedeutend vor, was ich bisher im Leben erreicht hatte. Meine Herrin war ungefähr im selben Alter
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