Das Schicksal in Person
Nachricht.«
»Und Sie haben nicht die geringste Ahnung, was passiert sein könnte?« fragte Miss Marple.
»Ich glaube nicht daran, dass die beiden ihren Entschluss geändert haben, dass sie die Verlobung gelöst haben.«
»Aber irgendetwas muss ja geschehen sein. Vielleicht erfuhr Verity doch noch etwas über Michael, das ihr die Augen öffnete.«
»Und wenn es so gewesen wäre – warum ließ sie es mich nicht wissen? Nein, das ist keine Lösung. Sie hätte mich niemals warten lassen. Sie war sehr gut erzogen, hatte sehr gute Manieren – sie hätte mich bestimmt benachrichtigt. Nein, ich fürchte, da gibt es nur eine einzige Lösung.«
»Sie ist tot«, rief Miss Marple. Sie dachte an das Wort, das Elizabeth Temple gesagt hatte.
»Ja«, antwortete Brabazon. »Tot.«
»Liebe«, sagte Miss Marple nachdenklich.
»Sie meinen – « Er zögerte.
»Es ist das Wort, das Miss Temple gebrauchte. Ich fragte sie: ›Weshalb starb sie?‹ Und sie antwortete mit diesem Wort: ›Liebe‹. Und dann sagte sie, dass es das furchtbarste Wort sei, das es auf der Welt gäbe.«
»Ja, ich verstehe«, sagte Brabazon. »Ich glaube, ich verstehe.«
»Und was ist nun Ihre Meinung?«
»Eine gespaltene Persönlichkeit«, sagte er und seufzte. »Etwas, das nur jemand bemerkt, der einen geschulten Blick dafür hat. Jekyll und Hyde sind keine reinen Produkte der Phantasie, sie waren nicht Stevensons Erfindung. Michael Rafiel muss schizophren gewesen sein, seine Persönlichkeit war gespalten. Ich besitze keine großen medizinischen Kenntnisse oder psychoanalytischen Erfahrungen, aber er muss diese Ambivalenz gehabt haben. Auf der einen Seite der gutwillige, fast liebenswerte Junge, der nur den einen Wunsch hatte, glücklich zu sein. Und dann die andere Seite – der krankhafte Trieb, den Menschen zu töten, den er liebte. Und deshalb musste Verity sterben. Er tat es vielleicht, ohne zu wissen, was er tat. Es gibt ja so viele Krankheiten, seelische Störungen, Veränderungen des Gehirns. Ich hatte einmal in meiner Gemeinde so einen Fall. Zwei ältere Frauen, die pensioniert waren und zusammen lebten. Sie hatten früher beruflich zusammengearbeitet und waren befreundet. Sie machten einen durchaus glücklichen Eindruck. Und dann tötete die eine ihre Freundin. Sie rief den Vikar der Gemeinde und erklärte ihm: ›Ich habe Louisa getötet. Ich habe den Teufel aus ihren Augen blicken sehen und sollte sie töten.‹ Solche Dinge lassen einen manchmal am Leben verzweifeln. Man fragt immer wieder nach der Ursache, und eines Tages wird man es wissen. Die Mediziner werden irgendeine kleine Veränderung in der Erbsubstanz feststellen, oder irgendeine Drüse, die falsch funktioniert.«
»Das ist also Ihre Erklärung«, sagte Miss Marple.
»Es kann gar nicht anders gewesen sein. Ich weiß, die Leiche wurde erst sehr viel später gefunden. Verity verschwand ganz einfach. Sie ging von zu Hause fort und kam nicht mehr wieder.«
»Aber es muss genau an dem Tag passiert sein.«
»Sicher ist doch vor Gericht…«
»Sie meinen, als die Leiche gefunden worden war und die Polizei Michael schließlich verhaftete?«
»Er war einer der ersten, die von der Polizei verhört wurden. Man hatte ihn ja mit dem Mädchen zusammen gesehen, in seinem Wagen. Die Polizei war von Anfang an sicher, dass er der Gesuchte war. Man hat ihn als ersten verdächtigt, und der Verdacht blieb bestehen. Die anderen jungen Leute, die Verity gekannt hatten, wurden auch verhört, aber sie hatten Alibis, oder es lagen keine Beweise gegen sie vor. Michael stand immer unter Verdacht, und schließlich wurde dann die Leiche gefunden. Erwürgt, mit eingeschlagenem Kopf und entstelltem Gesicht. Die Tat eines Verrückten. Er war nicht gesund, als er auf sie einschlug. Oder anders ausgedrückt: Mr Hyde hatte sich seiner bemächtigt.«
Miss Marple erschauerte.
Brabazons Stimme wurde leise und traurig: »Und doch hoffe ich selbst heute noch, dass es irgendein anderer junger Mann war. Ein Verrückter, der seelisch tatsächlich gestört war, ohne dass man es wusste. Vielleicht ein Fremder, der sie im Wagen mitnahm, und dann…« Er schüttelte den Kopf.
»Ja«, sagte Miss Marple. »So könnte es auch geschehen sein.«
»Mike machte vor Gericht einen sehr schlechten Eindruck«, meinte Brabazon. »Er erzählte dumme und sinnlose Lügen. Auch als man ihn fragte, wo sein Wagen sei, log er. Er hatte seine Freunde veranlasst, ihm ganz unmögliche Alibis zu geben. Er hatte Angst. Er verschwieg
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