Das Schicksal in Person
eigentlich noch viel zu jung, um so einen Entschluss zu fassen. Michael hatte immer Schwierigkeiten gemacht, schon in ganz früher Jugend. Er stand öfter vor dem Jugendgericht und hatte schlechte Freunde. Er hatte eine ganze Reihe von Freundinnen und musste an verschiedene Alimente zahlen. Ja, er trieb es schlimm mit den Mädchen und in anderer Hinsicht, aber er war sehr attraktiv. Die Mädchen waren verrückt nach ihm. Zweimal saß er für kurze Zeit im Gefängnis, er war vorbestraft. Ich kannte seinen Vater, wenn auch nicht sehr gut. Er tat alles, was er konnte – was ein Mann seiner Art tun konnte, um seinem Sohn zu helfen. Er hat dafür gesorgt, dass er wieder freikam, er hat ihm passende Arbeit verschafft, seine Schulden bezahlt und so weiter. Ich weiß nicht – «
»Aber Sie glauben, dass er noch mehr hätte tun können?«
»Nein«, sagte der Erzdiakon. »Heute sehe ich ein, dass man die Menschen so nehmen muss, wie sie sind, oder, um mich modern auszudrücken, wie ihre Erbanlagen beschaffen sind. Ich glaube nicht, dass Mr Rafiel an seinem Sohn gehangen hat, zu keiner Zeit. Er liebte ihn nicht. Ich weiß nicht, ob es für Michael besser gewesen wäre, wenn sein Vater ihm hätte Liebe geben können. Vielleicht hätte das gar nichts geändert. Auf jeden Fall war alles sehr traurig. Der Junge war nicht dumm, er besaß eine gewisse Intelligenz und war nicht unbegabt. Wenn er gewollt hätte, hätte aus ihm etwas werden können. Doch er war, um es ganz deutlich zu sagen, von Natur aus ein Übeltäter. Dabei hatte er auch nette Eigenschaften. Er hatte Humor, konnte großzügig sein und freundlich. Er hätte seinen Freunden immer geholfen, sie nie im Stich gelassen. Doch die Mädchen behandelte er schlecht, ließ sie sitzen, wenn sie ein Kind bekamen, und ging mit einer anderen davon. Ich stand also bei den beiden vor einem schweren Entschluss, und doch war ich bereit, sie zu trauen. Ich erklärte Verity ganz offen, wen sie da heiraten wollte. Er hatte ihr – das muss ich zugeben – nichts verheimlicht. Er hatte ihr gestanden, dass er ständig in Schwierigkeiten war, nicht nur mit der Polizei, sondern auch sonst. Aber nun wollte er, wie sie mir sagte, ein ganz neues Leben beginnen. Alles sollte anders werden. Ich warnte sie, dass er sich nicht ändern würde. Die Menschen ändern sich nicht. Sicher, er hatte vielleicht den guten Vorsatz dazu. Ich glaube, Verity ahnte das auch. Sie sagte zu mir: ›Ich weiß, wie Mike veranlagt ist. Ich weiß, dass er wahrscheinlich immer so bleiben wird, aber ich liebe ihn. Vielleicht kann ich ihm helfen, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall will ich es versuchen.‹
Und ich kann Ihnen eines sagen, Miss Marple, ich erkenne, wenn zwei Menschen sich wirklich lieben. Ich habe schon so viele junge Leute getraut, habe auch erlebt, welchen Kummer sie oft miteinander hatten und wie dann plötzlich alles besser wurde. Nein, ich täusche mich da nicht – und ich meine nicht die sexuelle Liebe. Es wird viel zu viel über Sex geredet, man nimmt das alles viel, zu wichtig. Damit möchte ich natürlich nicht sagen, dass der Sex gar keine Rolle spielen sollte. Das ist Unsinn. Aber er kann nicht die Stelle der Liebe einnehmen, er ist an die Liebe gebunden, aber ohne sie ist er bedeutungslos. Im Ehesakrament kommt deutlich zum Ausdruck, was Liebe sein soll. In guten und in schlechten Zeiten, in Armut und Reichtum, in gesunden und kranken Tagen soll man zusammenstehen. Das nimmt man auf sich, wenn man sich liebt und sich heiraten möchte. Diese beiden haben einander geliebt.
Und das«, sagte Brabazon, »ist das Ende meiner Geschichte. Ich kann Ihnen nicht mehr erzählen, weil ich nicht mehr weiß. Ich erklärte mich bereit, ihren Wunsch zu erfüllen, und traf alle notwendigen Vorbereitungen. Wir setzten einen bestimmten Tag fest, Stunde und Ort. Wahrscheinlich muss ich mir vorwerfen, dass ich auf ihre Bitte, alles geheim zu halten, einging.«
»Es sollte niemand davon erfahren?«
»Verity wollte es nicht, und ich nehme an, Michael auch nicht. Sie hatten Angst, dass ihnen jemand einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Für Verity war es außer der Liebe vielleicht auch das Gefühl, fliehen zu wollen. Das war ganz natürlich bei ihren damaligen Lebensumständen. Sie hatte ihre Eltern verloren, und nach ihrem Tod war sie in einem Alter, in dem junge Mädchen gewöhnlich für jemand schwärmen. Für irgendeine attraktive Lehrerin oder eine ältere Schülerin. Ein Stadium, das nicht
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