Das Schicksal in Person
Ich komme lieber hinunter. Vielleicht eine Tasse Tee, das wäre sehr nett. Aber sonst – ich möchte in den Garten gehen. Vor allem möchte ich mir den kleinen Erdhügel ansehen mit den vielen weißen Blüten. Er ist so schön und majestätisch – «
»Gute Nacht«, sagte Clotilde. »Schlafen Sie gut.«
In der Halle des Old Manor House schlug die alte Standuhr am Fuß der Treppe zweimal. Die Uhren im Haus schlugen nicht alle zur gleichen Zeit, und manche schlugen gar nicht. Wahrscheinlich war es nicht einfach, so viele alte Uhren in Ordnung zu halten.
Um drei Uhr war der sanfte Schlag der Uhr zu hören, die am Treppenabsatz des ersten Stockes stand. Durch die Türritze drang auf einmal Licht.
Miss Marple richtete sich langsam im Bett auf und tastete mit ihrer Hand nach der Nachttischlampe. Die Türe öffnete sich leise.
Das Licht im Gang war erloschen, aber Miss Marple hörte, wie leise Schritte auf sie zukamen. Sie knipste die Lampe an.
»Oh«, rief sie. »Sie sind es, Miss Bradbury-Scott! Was ist denn los?«
»Ich wollte nur nachsehen, ob Sie etwas brauchen«, antwortete Miss Bradbury-Scott.
Miss Marple schaute sie an. Clotilde trug einen langen, purpurroten Schlafrock. Wie schön sie ist, dachte Miss Marple. Eine tragische Gestalt, eine Gestalt wie aus einem Drama. Wieder musste sie an griechische Tragödien denken. Wieder kam ihr Klytämnestra in den Sinn.
»Brauchen Sie wirklich nichts?«
»Nein, vielen Dank«, sagte Miss Marple. Entschuldigend fügte sie hinzu: »Es tut mir Leid, aber ich habe die Milch nicht getrunken.«
»Ach. Warum denn nicht?«
»Ich dachte, sie bekäme mir nicht.«
Clotilde stand am Fußende des Bettes und sah sie an.
»Ich dachte, es wäre ungesund«, fügte Miss Marple hinzu.
»Wie meinen Sie das?«, Clotildes Stimme klang spröde.
»Ich glaube, das wissen Sie ganz genau«, sagte Miss Marple. »Schon gestern Abend haben Sie es gewusst. Vielleicht schon vorher.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Nein?«, fragte Miss Marple sarkastisch.
»Die Milch ist sicher kalt geworden. Ich nehme sie mit und bringe Ihnen neue.« Clotilde streckte ihre Hand aus und nahm das Glas Milch vom Nachttisch.
»Bemühen Sie sich nicht«, sagte Miss Marple. »Ich würde die Milch doch nicht trinken.«
»Ich begreife wirklich nicht«, sagte Clotilde. »Was sind Sie für eine merkwürdige Frau! Wie reden Sie mit mir? Wer sind Sie?«
Miss Marple nahm den rosa Wollschal ab, den sie um den Kopf geschlungen hatte. Es war ein ähnlicher Schal, wie sie ihn damals in Westindien getragen hatte.
»Einer meiner Namen«, sagte sie, »ist ›Nemesis‹.«
»Nemesis? Und was heißt das?«
»Ich glaube, das wissen Sie«, sagte Miss Marple. »Sie sind ja eine gebildete Frau. Es dauert oft lange, bis Nemesis kommt, aber eines Tages kommt sie doch.«
»Wovon sprechen Sie?«
»Von einem sehr schönen Mädchen, das Sie getötet haben«, sagte Miss Marple.
»Das ich getötet habe? Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich meine das Mädchen Verity.«
»Und warum sollte ich sie getötet haben?«
»Weil Sie sie liebten«, sagte Miss Marple.
»Natürlich habe ich sie geliebt. Ich habe sehr an ihr gehangen. Sie hat mich auch geliebt.«
»Vor nicht langer Zeit hat jemand zu mir gesagt, dass Liebe ein schreckliches Wort sei. Es ist ein schreckliches Wort. Sie haben Verity zu sehr geliebt, sie bedeutete Ihnen alles auf dieser Welt. Verity liebte Sie, bis etwas anderes in ihr Leben trat. Eine andere Art von Liebe. Sie verliebte sich in einen jungen Mann. Kein sehr passender junger Mann, kein vollkommenes Exemplar und ohne eine anständige Vergangenheit. Aber sie liebte ihn, und er liebte sie, und sie wollten fliehen. Verity wollte fliehen, weil die Bindung an Sie, Ihre Liebe, sie zu sehr belastete. Sie wollte leben wie eine normale Frau. Mit dem Mann ihrer Wahl, mit dem sie Kinder haben wollte. Sie wollte heiraten und ein glückliches, normales Leben führen.«
Clotilde ging zu einem Stuhl und setzte sich.
»So«, sagte sie. »Sie scheinen das ja gut zu verstehen.«
»Ja, ich verstehe es.«
»Was Sie behaupten, stimmt ganz genau. Ich leugne es nicht. Es spielt keine Rolle mehr.«
»Da haben Sie ganz Recht. Es spielt gar keine Rolle.«
»Wissen Sie überhaupt – können Sie sich denn vorstellen, wie ich gelitten habe?«
»Ja, das kann ich. Ich habe mir solche Dinge immer schon vorstellen können.«
»Wissen Sie, was es heißt, diese Todesangst zu haben – diese Todesangst, den Menschen
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