Das Schicksal in Person
den Kopf und die schwere Gehirnerschütterung sind natürlich auf den Stein zurückzuführen«, sagte Miss Barrow. »Die Frage ist nur, Miss Marple, ob der Stein von selbst ins Rollen kam oder ob ihm jemand einen Stoß gab.«
»Aber du glaubst doch nicht«, rief Miss Cooke, »dass jemand so etwas absichtlich getan hat! Wer würde denn auf so einen Gedanken kommen! Wahrscheinlich waren es Studenten oder irgendwelche Fremde. Ich frage mich, ob es nicht – «
»Ob es jemand von unserer Reisegesellschaft war?«, sagte Miss Marple.
»Das – das habe ich nicht gesagt«, wehrte sich Miss Cooke.
»Leider müssen wir so etwas in Betracht ziehen«, sagte Miss Marple. »Eine Erklärung muss es ja geben. Wenn die Polizei sicher ist, dass es kein Zufall war, dann muss es doch jemand getan haben und – nun, Miss Temple war hier fremd. Deshalb kommt niemand aus dem Dorf in Frage. Also fällt die Sache auf uns zurück, auf alle, die im Bus mitgefahren sind.«
Sie lachte verlegen. »Aber wahrscheinlich sollte ich so etwas gar nicht sagen. Ich finde nur, dass Verbrechen wirklich sehr interessant sind. Manchmal sind schon die unwahrscheinlichsten Dinge passiert.«
»Haben Sie eine bestimmte Idee, Miss Marple?«, fragte Clotilde. »Das würde mich interessieren.«
»Ach, es gibt verschiedene Möglichkeiten.«
»Dieser Mr Caspar«, sagte Miss Cooke. »Ich mochte ihn vom ersten Augenblick an nicht leiden. Ich hatte das Gefühl, er könnte etwas mit Spionage zu tun haben. Vielleicht ist er hier, um Atomgeheimnisse auszuspionieren.«
»Ich glaube nicht, dass es hier ein Atomgeheimnis auszuspionieren gibt«, sagte Mrs Glynne.
»Nein, natürlich nicht«, warf Anthea ein. »Vielleicht verfolgte sie jemand. Vielleicht war sie eine Verbrecherin.«
»Unsinn«, meinte Clotilde. »Sie war die pensionierte Direktorin einer sehr bekannten Schule und außerdem eine sehr gescheite Frau. Warum sollte jemand sie verfolgen wollen?«
»Ach, ich weiß nicht. Vielleicht ist sie ein wenig sonderlich geworden oder so.«
»Ich glaube«, sagte Mrs Glynne, »dass Miss Marple genaue Vorstellungen hat.«
»Ja«, antwortete Miss Marple, »das stimmt. Ich habe das Gefühl, dass nur zwei… Ach, es ist schwierig, es richtig auszudrücken. Ich meine, es kommen eigentlich nur zwei Leute in Frage. Vielleicht stimmt es auch gar nicht, denn sie sind beide sehr nett. Aber logischerweise muss man sie verdächtigen.«
»Wen meinen Sie? Das ist ja sehr interessant.«
»Ich glaube, ich sollte nicht darüber sprechen. Es ist nur eine ganz vage Vermutung.«
»Erzählen Sie! Wer gab dem Stein den Stoß? Wer war diese Gestalt, die Joanna und Emlyn Price gesehen haben?«
»Also, ich meine – ich könnte mir vorstellen, dass sie niemand gesehen haben.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Anthea. »Sie sahen niemand?«
»Ja. Vielleicht haben sie alles erfunden.«
»Was? Dass sie jemand sahen?«
»Es könnte immerhin möglich sein, oder nicht?«
»Sie meinen, es war ein dummer Scherz?«
»Man hört heutzutage immer wieder von jungen Leuten, die die seltsamsten Dinge tun«, sagte Miss Marple. »Sie schlagen die Fenster von Botschaften ein und greifen Leute an. Sie werfen mit Steinen auf sie. Die beiden sind die einzigen jungen Leute in der Gruppe.«
»Sie glauben, Emlyn Price und Joanna könnten den Stein hinuntergestoßen haben?«
»Nun, es kommt sonst niemand in Frage, nicht wahr?«, sagte Miss Marple.
»Meinen Sie wirklich?«, rief Clotilde. »Darauf wäre ich nie gekommen. Aber ich kann es mir vorstellen, ja, daran könnte wirklich etwas Wahres sein. Natürlich kenne ich die beiden nicht, ich bin nicht mit ihnen mitgereist.«
»Sie waren sehr nett«, sagte Miss Marple. »Joanna schien ein sehr tüchtiges, fähiges Mädchen zu sein.«
»Fähig zu allem?«, fragte Anthea.
»Anthea«, mahnte Clotilde. »Ich bitte dich!«
»Nun, sie ist sehr geschickt«, sagte Miss Marple. »Wenn man so etwas anstellt und nicht gesehen werden will, muss man schon sehr geschickt sein.«
»Sicher haben sie es gemeinsam getan«, meinte Miss Barrow.
»Aber natürlich«, sagte Miss Marple.
»Sie erzählten auch ungefähr die gleiche Geschichte. Sie sind ganz eindeutig verdächtig. Alle anderen konnten sie nicht sehen, weil sie den Hauptweg weiter unten benützten. Die beiden können den Hügel hinaufgeklettert sein und dann den Stein gelockert haben. Vielleicht hatten sie es auch gar nicht auf Miss Temple abgesehen. Sie hatten einfach das Bedürfnis, eine Gewalttat zu
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