Das Schicksal in Person
verüben. Danach erfanden sie das Märchen von der Gestalt, die sie dort oben gesehen hatten. Auch was sie von der Kleidung dieser Person erzählten, klingt sehr unwahrscheinlich. Vielleicht sollte ich das alles nicht sagen, aber ich habe mir eben meine Gedanken darüber gemacht.«
»Ein interessanter Gesichtspunkt, scheint mir«, sagte Mrs Glynne. »Was meinst du, Clotilde?«
»Ja, ich glaube, es ist eine Möglichkeit. Ich wäre selbst nie darauf gekommen.«
»So«, sagte Miss Cooke und erhob sich. »Wir müssen ins Hotel zurück. Kommen Sie mit, Miss Marple?«
»Nein, nein«, antwortete Miss Marple. »Ich vergaß, es Ihnen zu erzählen, Miss Bradbury-Scott bat mich freundlicherweise, noch ein oder zwei Tage hier zu bleiben.«
»Ach so. Nun, das ist sicher viel angenehmer für Sie. Und bequemer. Die Leute, die heute im Golden Boar angekommen sind, scheinen ziemlich laut zu sein.«
»Wie wäre es, wenn Sie nach dem Abendessen auf eine Tasse Kaffee zu uns kämen?«, schlug Clotilde vor. »Es ist ein so schöner, warmer Abend. Es tut mir Leid, dass ich Sie nicht zum Essen einladen kann, aber ich fürchte, wir haben nicht genug Vorräte im Haus. Aber wenn Sie zum Kaffee kommen wollen…«
»Das wäre reizend«, sagte Miss Cooke. »Ja, wir nehmen Ihre Gastfreundschaft gerne an.«
20
M iss Cooke und Miss Barrow erschienen pünktlich um 20.45 Uhr. Miss Cooke trug ein beiges Spitzenkleid, Miss Barrow ein olivgrünes. Während des Essens hatte sich Anthea mit Miss Marple über die beiden Damen unterhalten.
»Wie merkwürdig«, sagte sie, »dass sie hier geblieben sind.«
»Das finde ich nicht«, antwortete Miss Marple. »Es ist doch verständlich. Sie verfolgen einen ganz genauen Plan.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Mrs Glynne.
»Nun, sie rechnen immer mit den verschiedensten Möglichkeiten und gehen dabei nach einem bestimmten Plan vor.«
»Glauben Sie«, fragte Anthea aufhorchend, »dass sie auch für den Mordfall einen Plan hatten?«
»Mir wäre es lieber«, sagte Mrs Glynne, »wenn du den Tod der armen Miss Temple nicht als Mord hinstelltest.«
»Aber natürlich war es Mord«, sagte Anthea. »Ich möchte nur wissen, wer ihr den Tod wünschte. Vielleicht eine Schülerin, die sie schon in der Schule hasste und sich rächen wollte?«
»Meinen Sie, dass Hass so lange dauern kann?«, fragte Miss Marple.
»Ja, das glaube ich. Ich glaube, dass man jemand Jahre hindurch hassen kann.«
»Nein«, sagte Miss Marple. »Das finde ich nicht. Hass stirbt mit der Zeit. Man kann versuchen, ihn künstlich aufrechtzuerhalten, aber es würde einem nicht gelingen. Der Hass ist keine so große Triebkraft wie die Liebe.«
»Könnten Miss Cooke oder Miss Barrow oder beide zusammen den Mord begangen haben?«
»Warum?«, fragte Mrs Glynne. »Anthea, ich verstehe dich wirklich nicht. Sie machen doch einen sehr netten Eindruck.«
»Sie haben etwas Geheimnisvolles an sich«, sagte Anthea. »Findest du nicht auch, Clotilde?«
»Vielleicht hast du Recht«, antwortete Clotilde. »Auf mich wirken sie irgendwie unecht. Sicher weißt du, was ich meine.«
»Sie sind mir unheimlich«, sagte Anthea.
»Du und deine Phantasie«, sagte Mrs Glynne. »Immerhin gingen sie den Hauptweg, nicht wahr? Sie haben sie doch gesehen?«, fragte sie Miss Marple.
»Nein«, sagte Miss Marple. »Ich hatte keine Gelegenheit dazu.«
»Sie meinen –?«
»Sie war nicht dabei«, sagte Clotilde. »Miss Marple war hier in unserem Garten!«
»Ach natürlich, das hatte ich vergessen!«
»Es war ein so schöner, friedlicher Tag«, sagte Miss Marple. »Ich habe ihn sehr genossen. Morgen früh möchte ich mir noch einmal die kleinen weißen Blüten ansehen, bei dem Erdwall. Neulich brachen sie gerade auf. Sicher blühen sie jetzt ganz herrlich. Ich werde mich immer daran erinnern – es gehörte mit zu meinem Besuch hier.«
»Ich mag sie nicht«, sagte Anthea. »Ich möchte, dass sie ausgerissen werden. Es soll wieder ein Gewächshaus hinkommen. Wenn wir genug sparen, können wir es doch sicher bauen, Clotilde?«
»Wir lassen es, wie es ist«, erklärte Clotilde. »Ich möchte nicht, dass etwas verändert wird. Wozu brauchen wir ein Gewächshaus? Es würde Jahre dauern, bis die Weinstöcke wieder Trauben trügen.«
»Lassen wir das Thema«, sagte Mrs Glynne. »Es hat keinen Sinn, dass wir uns darüber unterhalten. Gehen wir in den Salon. Unsere Gäste werden gleich kommen.«
Kurz darauf waren dann die Gäste gekommen. Clotilde brachte das Tablett
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