Das Schiff aus Stein
davon, dass Coralia ihn beobachten ließ. Aber das ging nicht, solange sie in dieser Flut waren. Es war zu gefährlich. No könnte sich Bent und Anselm gegenüber viel zu leicht verplappern und Filine würde ziemlich sicher vor Wut ausrasten, wenn sie das hörte. Damit könnte er vielleicht die ganze Flut zum Scheitern bringen. Und das wollte er nicht.
Rufus fühlte, dass diese Flut ihm etwas Wichtiges zu erzählen hatte. Es war die Flut, die die Akademie geschickt hatte, als er nicht weiterwusste, und irgendetwas in ihr hatte auch mit dem Diebstahl des Kopfes zu tun. Es war der Ratschlag, den die Akademie ihm sandte, auch wenn er noch nicht wusste, worin der Ratschlag bestand.
»Ich finde, No hat recht«, sagte er deswegen jetzt. »Warum soll er nicht mit Bent und Anselm über das, was wir hier lernen können, sprechen? Wir sind in einer Flut und –«
»Aber Rufus, merkst du denn nicht, dass dich die beiden die ganze Zeit nur beobachten? Sie tun doch gar nichts für die Flut!«, rief Filine empört. »Klar, sie sehen sich alles genau an. Aber trotzdem sind sie auch irgendwie nicht richtig dabei.«
»Hey, Fili!«, sagte No müde. »Jetzt komm mal wieder runter.«
»Ich soll runterkommen?« Filine stemmte die Hände in die Hüften. »Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein.«
»Doch«, sagte No und ging zu seinem Kastenbett.
Filine biss sich auf die Lippen. Auf einmal sah sie ganz bleich und verstört aus, und in ihren Augen schimmerte es feucht.
»Mann«, sagte sie leise.
Und auf einmal tat sie Rufus unendlich leid.
Er beugte sich dicht zu Filine und flüsterte: »Fi, selbst wenn du recht hast, und das kann gut sein, darfst du nicht vergessen, dass jede Münze zwei Seiten hat. Und auch wenn die beiden wirklich nur hier sind, um mich zu beobachten, dann könnte das helfen, dass wir umgekehrt Coralia beobachten und rausfinden, warum und wozu sie die beiden anstiftet. Okay?! Der Gejagte kann auch zum Jäger werden, wenn er sich klug verhält.«
Filine hielt den Atem an. »Meinst du das ernst?«, flüsterte sie dann.
Aus Nos Bett ertönte lautes Schnarchen.
»Ja«, sagte Rufus immer noch mit leiser Stimme. »Ich denke auch, dass Anselm und Bent nicht wirklich ehrlich sind. Aber wenn sie jetzt merken, dass No sich von ihnen abwendet, dann kapieren sie, dass wir Bescheid wissen.«
»Und du willst mir nicht sagen, um was es hier geht?«
Rufus sah sich um. »Ich weiß es nicht wirklich«, sagte er zögernd. »Aber es kann sein, dass Coralia uns alle auf eine sehr viel schlimmere Weise hintergeht, als wir das denken. Und sie und ich waren auf keinen Fall miteinander verabredet, und ich habe sie auch nicht in die Flut eingeladen. Das hat sie sich ausgedacht.«
Filine nickte. »Das ist ein alter Trick. Man nennt es ›teile und herrsche‹. Diese List funktioniert so, dass man einen Keil zwischen andere treibt, damit sie nicht länger zusammenhalten. Das haben die Chinesen schon um 500 vor Christus angewendet.«
»Aha«, murmelte Rufus. »Das passt jedenfalls ins Bild. Ich kenne einfach die Zusammenhänge noch nicht, und ich kann dir nicht alles sagen. Aber es ist etwas Schlimmes passiert, Fili, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Aber ich glaube, dass die Flut mir einen Weg zeigen will. Und deswegen müssen wir diese Flut alle zusammen meistern!«
Filine sah ihn eine Weile lang an. »Gut, Rufus!«, sagte sie endlich. »Ich werde schweigen, auch wenn ich mich in dieser Flut ziemlich allein fühle.«
»Danke, Fi!«, raunte Rufus. »Ich danke dir wirklich. Und ich verspreche dir, sobald ich weiß, um was es hier geht, und sobald ich wieder offen reden kann, erkläre ich dir alles!«
»Das will ich hoffen«, sagte Filine. Dann kletterte sie ohne ein weiteres Wort in ihr Bett.
Rufus tat es ihr nach.
Im Haus Meister Otomos war es still. Rufus dachte an Amilcar und die Flut.
Dann schlief er ein.
Die Flügel der Taube schlugen leicht gegen das offen stehende Fenster von Meister Otomos Haus, als sie mitten in der Nacht auf dem Sims landete. Von dort trippelte sie auf die Fensterleiste und weiter ins Zimmer.
Leise gurrend harrte sie dort aus.
Das Gurren drang an Rufus’ Ohren. Verschlafen schlug er die Augen auf und erblickte die Taube.
Rufus erkannte sie sofort. Und zwar an dem Behälter, der an ihrem Fuß in der Dunkelheit glänzte. Es war Coralias Brieftaube. Aber wieso war sie bei ihm gelandet? Er stand auf und streckte die Hand nach dem Vogel aus.
Die Taube ließ sich ohne Widerstand nehmen.
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