Das Schiff - Roman
äußeren Bereich eines tief im Schiff verborgenen wundersamen Bauchnabels. Selbstverständlich können weder Kim noch ich einen Nabel vorweisen. Aber die Mädchen haben süße kleine, nach innen
gestülpte Nabel – und auch das Schiff hat einen wahrhaft kolossalen Omphalos .
Das hier ist die vor Leben strotzende Gonade des Schiffskörpers 03 und der eigentliche Grund für die Existenz und Reise dieses Schiffs. Hier nimmt der Klados seinen Anfang, denn an diesem Ort werden alle Lebewesen entworfen und auf Tauglichkeit geprüft. Mutter hat diesen Genpool in Besitz genommen und sich selbst zur Gebieterin über Leben und Tod gemacht.
Aber ich kann mich noch immer nicht an Mutter erinnern.
Wieso können wir uns trotz all dieser stimulierenden visuellen Informationen, die doch tief vergrabene Erinnerungen und Kenntnisse freisetzen müssten, nicht an Mutter erinnern?
Wer hat sie entworfen und geschaffen?
»Achtung«, sagt Kim, »das Empfangskomitee.« Ich blicke zu der Stelle hinüber, auf die er mit dem dicken zitronengelben Zeigefinger deutet.
Zehn kleine Mädchen, alle in blauen Overalls, bewegen sich Hand in Hand vorwärts. Aus der Wand ragt ein langes, zur Schleife geformtes Halteseil, das die Mädchen wie den Sicherheitsbügel in einer Achterbahnkabine umklammern, um sich in geschlossener Reihe dem Ort zu nähern, an dem Kim und ich zurückgeblieben sind und dumm aus der Wäsche schauen. Die Mädchen sagen kein Wort und scheinen sich nicht sonderlich für uns zu interessieren, schon gar nicht für unseren Protest, als sie uns umzingeln und sanft, aber unnachgiebig nach achtern schieben.
»Wie heiß ich doch gleich wieder?«, frage ich Kim.
»Scheiße, ich weiß es auch nicht mehr. Du bist einfach nur der Lehrer . Nein, halt, du heißt Sanjay , glaube ich.«
Die Mädchen führen uns über mehrere Bodenerhebungen und durch ein Gewirr von Säulen, die offenbar dazu dienen, ein golden schimmerndes Rohrleitungsnetz zu stützen, und je weiter wir kommen, desto wärmer wird es, fast tropisch heiß. Der Durchmesser der glatten, lichtdurchlässigen Röhren reicht von wenigen Zentimetern bis zu zehn oder mehr Metern. In der ganzen Konstruktion zischt und brodelt es leise. Das erinnert mich an …
… Wellen, die gegen einen Strand schlagen.
An einen Ozean – den ursprünglichen Genpool der Erde –, an salzige Luft, Gischt, Möwen, verfaulenden Seetank, nassen Sand, der zwischen meinen nackten Zehen hervorquillt. An meine Freundin, mit der ich unter einem warmen blauen Himmel im einer Lagune schwimme.
Schon immer habe ich das Rauschen von Wellen gemocht. Obwohl ich in Wirklichkeit wohl niemals in einem Meer gebadet habe oder an einem Strand spazieren gegangen bin.
Als das Rohrleitungsnetz hinter uns zurückbleibt, ist nur noch gedämpftes warmes Licht zu sehen, das aus winzigen Leuchten an Wänden und am Boden dringt. Ständig verändert es sich und fügt sich zu verschiedenen Pünktchenmustern zusammen, die uns wie die leuchtende Haut eines Tiefseegeschöpfs Orientierung geben.
Vor uns liegt ein Dickicht aus knorrigen Ästen und Blattwerk, übersät mit winzigen leuchtenden Blüten, die an Sterne erinnern und ein Eigenleben zu besitzen scheinen. All diese kleinen Blüten scheinen uns interessiert und ohne jede Angst zu beobachten …
Wir haben freien Zutritt zu einer Dschungelkugel.
Zweifellos betreten wir hier eine gut geschützte Zone, aber die Begrüßung durch die Kinder und den blühenden Wald kommt uns eher so vor, als wären wir wohlgelittene Gäste. Wir stellen keine Bedrohung dar. Werden erwartet. Und im Dickicht tut sich ein Pfad für uns auf. Erst jetzt fällt uns auf, dass die Äste in diesem Wald Millionen winziger Dornen tragen, aus deren Spitzen winzige grünliche Tropfen sickern. Vermutlich birgt jede Dorne eine tödliche Dosis von Gift für den Tollkühnen, der hier ohne Begleitung und ohne Einladung einzudringen wagt. Das, was im Inneren der Dschungelkugel liegt, ist irgendjemandem – der Mutter – offenbar überaus wichtig. Aber natürlich muss sie sich auch schützen, schließlich ist sie jetzt der Nabel unserer Welt, nicht wahr?
»Nichts anfassen«, warne ich Kim. »Wir sind von Kobras umzingelt.«
»Was ist eine Kobra?«
»Eine Schlange.«
»Ach ja, ein langes Ding mit Giftzähnen, stimmt’s?«
Dieser dümmliche Wortwechsel dient uns eigentlich nur dazu, die für uns peinliche Situation zu überspielen. Denn die Phalanx der Mädchen, die uns durch diesen Dschungel schleppt,
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