Das Schiff - Roman
ausgewachsenen mit mir herum – so groß, dass er mich zerreißen könnte. Oder mich in etwas so Schlimmes verwandeln könnte
wie das, was wir vermutlich auf den geheimen Katalogseiten entdecken würden …
Oder auch auf gewissen Seiten im Notizbuch meines Zwillingsbruders. Alles hängt jetzt davon ab, was ich unternehme, wenn wir Mutter begegnen. Ich schiebe die leise Stimme in meinem Innern gleich wieder ins Dunkel des Unterbewusstseins zurück – besser so!
Über einen Balken und an mehreren Seilen entlang folgen wir dem Mädchen bis zu der Stelle, an der sich diese riesige Kugel mit einer kleineren verbindet, deren Durchmesser knapp vierzig Meter betragen mag. Aus der Mitte der leeren Kammer ragt eine etwa fünfzig Zentimeter breite, offensichtlich mit Reif beschlagene Röhre in die Dunkelheit. Sie erinnert mich an eine Rutsche für Schüttgut. Oder an einen Speiseaufzug, der von einer Großküche zur Kantine führt.
»Wir durchqueren die Röhre so schnell wie möglich«, erklärt das Mädchen. »Es gibt hier keine Halteseile, und man kann sich auch nirgendwo festhalten. Stoßt euch einfach ab und schwebt hindurch.«
Kim gefällt das ganz und gar nicht. »Bin noch nie besonders gelenkig gewesen!«, grummelt er.
»Außerdem ist es da drinnen kalt«, warnt das Mädchen. »Holt erst wieder Luft, wenn ihr draußen angekommen seid.«
»Na toll«, grunzt Kim.
Während sich das Mädchen von der Stelle abstößt, an der die beiden Kugeln ineinander übergehen, holen Kim und ich tief Luft und behalten sie in der Lunge. Kim startet als Nächster. Gelenkiger als gedacht verschwindet
er in der Dunkelheit und schwebt auf den schwachen Lichtstrahl am anderen Ende der Röhre zu. Ich starre so lange in die Kälte, bis mir die Augen wehtun. Schließlich legt sich Kims Schatten vor das Licht, und einen Moment später höre ich ihn nach Luft schnappen. »Alles klar!«, ruft er.
Jetzt bin ich dran.
Auf halber Strecke ist es kälter, als wir es in Schiffskörper 01 je erlebt haben. So kalt, dass ich hier binnen Minuten, wenn nicht Sekunden zu Eis erstarren würde. Außerdem wirkt die eiskalte Luft überaus dicht. Meine Haut prickelt, und vor mir tanzen bläuliche Lichter auf und ab, die gar nicht da sein können. Schließlich packt mich Kims langer Arm und zieht mich nach draußen.
»Gut gemacht«, sagt das Mädchen.
Während meine Haut weiter prickelt, meine Augen langsam wieder auftauen und die bläulichen Lichter nach und nach verschwinden, frage ich mich – nicht zum ersten Mal –, ob ich soeben aus einem langen Alptraum hochgeschreckt bin und jetzt der nächste Traum beginnt. Nur ist dieser hier sehr viel angenehmer als der vorige. Nun ja, die Hoffnung stirbt als Letztes.
Seltsam süßliche Düfte liegen in der Luft – Blumengerüche, menschliche Gerüche, intensiver, als ich sie je erlebt habe, strömen in warmen Wellen auf mich ein. Und was ich sehe oder zu sehen vermeine, ist unglaublich schön. Es ist eine schwerelose Stadt, eigentlich eher ein Dorf, das aus Hunderten kleiner runder Unterkünfte besteht, hellen und dunklen, weißen und bunten, angeordnet wie eine Gruppe von Seifenblasen.
Überall hantieren und ziehen Kinder herum oder spielen miteinander. Manche sind nackt, andere tragen blaue Overalls. In den Händen halten sie kleine Gefäße oder auch lange Stöcke und stoßen Lebensmittel, Flaschen und andere Gegenstände durch die schwerelose Luft. Sie sehen wie Hunderte eifriger kleiner Engel aus. Und all diese Kinder sind Mädchen. Schöne, glückliche Mädchen, einander so ähnlich wie ein Ei dem anderen.
»Willkommen«, sagt unsere Begleiterin, und in diesem Moment fällt etwas von ihr ab – die steife, starrsinnige Haltung. Im Vergleich zu den anderen Mädchen wirkt sie schmuddelig, ausgelaugt vom weiten Weg hierher, völlig erschöpft, und deshalb auch älter. »Ich werde mich jetzt mit Mutter treffen. Sobald ich sie berührt habe, wird sie sich an alles, was geschehen ist, erinnern können. Danach wird sie euch empfangen.«
Kim und ich greifen nach einem Halteseil an der vorderen Wand der Kammer. Wegen der Abdichtungen dringen die kühlen Luftströme nicht bis hierher vor. Nur die vom Genpool ausgehende Röhre reicht durch die Wand und mündet in einen prächtigen Abschluss: eine Blume aus goldenen Ruten, wobei jede Rute Blüten trägt. Wie kleine Bienen umschwärmen die Mädchen diese Blume und entnehmen ihr Proben.
Was ich hier sehe, ist so schön, dass ich Demut empfinde. Wir sind im
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