Das Schiff - Roman
nach hinten und blecke die Zähne. Inzwischen sind wir uns so nahe, dass unsere Nasen sich fast berühren. Ich fürchte, einer von uns oder wir beide werden gleich explodieren, doch es passiert nichts. Weder küsst mich mein Traumbild, noch erleide ich den fast herbeigesehnten Liebestod.
Leicht schnaubend schließt sie die Augen. »Ja«, sagt sie schließlich, »ich kenne dich.« Und hebt den Arm (einen Arm von menschlicher Größe), der zuvor entspannt über ihren Brüsten gelegen hat, um mir die Hand entgegenzustrecken. Ihre Finger sehen verblüffend menschlich aus, sind sogar schön geformt. Mir fällt auf, dass ihre Nägel manikürt sind (zweifellos von ihren Töchtern). Auch ihr kurzes Haar ist sorgfältig geschnitten und frisiert und der Körper makellos sauber. Außerdem ist er mit einem duftenden, schwach grünlich schimmernden Puder bestäubt; vielleicht wurden dafür Blätter und Blumen aus ihrem Garten zermahlen.
»Küss sie«, flüstert eines der kleinen Mädchen. Ich spüre keine Angst mehr, denn dieses Parfüm … Falls ich nicht dagegen ankämpfe, wird es mich trunken machen, in einen Rausch versetzen.
»Du bist der Lehrer«, stellt die Mutter fest.
»Ja, in einem anderen Leben«, flüstere ich.
In diesem anderen Leben sollte meine Gefährtin, meine Freundin, als Chefbiologin auf dem Schiff anheuern. Und jetzt ist sie das, mit allen vorgesehenen Kompetenzen und einer Macht, die weit darüber hinausgeht.
Vielleicht ist Kim früher ihr Assistent gewesen und hat sich um das Labor und den Genpool gekümmert?
»Wir beide waren einmal ein Paar und haben Töchter gezeugt«, raunt sie mir zu. »Doch du wurdest mir genommen. Also habe ich das Schiff angefleht, weitere Versionen von dir herzustellen.«
Inzwischen mischt sich mein Entsetzen mit Bewunderung und Ehrfurcht. »Ich kann mich nicht daran erinnern«, erwidere ich entschieden.
»Unsere gemeinsamen Töchter haben dich wieder und wieder aufgespürt. Denn jedes Mal verliere ich dich wieder. Stets wirst du mir genommen.«
Das muss ich erst einmal verdauen. Ihre Worte lösen bei mir tief innen einen Schmerz aus, den ich weder deuten noch in den Griff bekommen kann.
»Ich bringe meine Töchter selbst zur Welt«, fährt sie fort. »Und später beten sie zum Schiff, bitten um deine Wiederkehr und bringen dich zurück zu mir. Das, was du während deiner Reise erlebst, lässt dich reifen wie eine Frucht. Ich bin sehr froh, dass du jetzt hier bist.«
»Küss sie«, drängt das Mädchen erwartungsfroh.
Schüchtern streckt Mutter mir erneut die Hand hin, deren Rückseite völlig glatt ist. Die Finger sind etwas dicker als diejenigen, die ich von der Traumzeit her kenne. In meiner Erinnerung blitzen bestimmte Momente mit ihr wie funkelnde Perlen auf.
Kein Wunder, Weichtiere erzeugen ja auch Perlen, schießt mir ernüchternd durch den Kopf. Es gibt sogar Austernfarmen.
Als ich ihre Hand schließlich küsse, atmen alle ringsum erleichtert auf. Vor Freude klatscht eines der kleinen Mädchen sogar leise Beifall, nimmt sich die Freiheit heraus, sich zwischen uns zu setzen, und blickt mir tief in meine verblüfften Augen. »Wir haben uns so große Sorgen gemacht. Aber jetzt bist du wirklich hier!«
Als Mutter sie sanft zur Seite schiebt, lacht sie und huscht zu ihren Schwestern hinüber. Jetzt haben Kim und ich keine Eskorte mehr. Jedes Mal, wenn ich Kim, der die Augen geschlossen und die Arme verschränkt hat, kurz ansehe, kommt er mir mehr und mehr wie ein riesiger, schläfriger, zitronengelber Flaschengeist vor.
»Ihr bekommt bald etwas zu essen«, erklärt Mutter. »Aber vorher müssen wir noch einiges erledigen.« Träge streckt sich die Frau, die mir zur Gefährtin, zur Gattin in der neuen Welt bestimmt war, auf dem Podest aus. »Unterrichte mich, Lehrer. Erzähl mir, was du erlebt hast.«
Sofort umschließt uns die Laube und schottet uns weitgehend von den anderen ab. Mittlerweile zeigt das Parfüm bei mir Wirkung: Ich bin überaus glücklich, dass ich Gnade vor den Augen dieser Frau gefunden habe. Und beginne mit meiner Erzählung.
Der Bericht
I ch versuche mir alles in Erinnerung zu rufen, das ich gesehen und erlebt habe, und spule es wie eine elektronische Aufzeichnung ab, doch mit dem Herzen bin ich nicht dabei. Sobald ich diese Frau ansehe, stelle ich mir ihren Kopf auf einem anderen Körper, in einem anderen Leben vor.
Nach und nach – sicher sind mittlerweile schon Stunden vergangen, denn das goldene Licht der Laube ist Schatten gewichen
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