Das Schiff - Roman
gereicht?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was braucht das Schiff von deinem Zwilling? Was trägt er deiner Meinung nach in sich?«
»Auch das weiß ich nicht.« Mir ist nicht wohl dabei, jetzt schon ein Urteil über meinen Zwilling abzugeben.
Ich bin ja selbst noch nicht von jedem Verdacht befreit. Das merke ich nicht zuletzt daran, wie Kim mich ansieht. Und daran, dass Nell uns alle offenbar Tests unterzogen hat.
Das Mädchen hat inzwischen kehrtgemacht und wartet dort, wo ein anderer Durchgang kreuzt. In ihrer Gegenwart will ich nicht über diese Dinge reden. Außerdem muss ich mich dringend wieder orientieren. Der Gang, den wir bisher entlanggekommen sind, führt nur noch zehn Meter weiter und endet dort an einem runden Haltepunkt.
»Wir gehen nach außenbord«, erklärt das Mädchen, stößt sich vom Boden ab und steigt den darüberliegenden Schacht hoch.
Uns bleibt nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Nach knapp dreißig Metern tauchen wir in einen warmen, feuchten, dunklen Raum ein. Sofort greift Kim nach einem Sicherungsseil und schlingt seine Riesenpranke um meine Ferse. Als reagierte der Raum auf unsere Anwesenheit, hellt er sich schlagartig so auf, dass wir unsere Augen abschirmen müssen.
»Ihr hättet die Augen besser zugemacht«, sagt das altkluge Mädchen, das nur als vager kleiner Umriss in unserer Nähe auszumachen ist.
»Vielen Dank auch, dass du uns rechtzeitig gewarnt hast«, gibt Kim zurück.
Als ich durch die Finger spähe, kann ich nach und nach Einzelheiten erkennen. Einen Moment lang baumeln wir am ausgestreckten Seil, dann lässt Kim mich so weit herunter, dass wir uns beide am Rand des
Schachts abstützen können. Während ich mich zu orientieren versuche, halte ich mich nahe bei Kim, weil ich mich dann sicherer fühle.
Wir befinden uns am Rand einer Kugel, die viel größer ist als die Dschungelkugeln oder die mit Abfall vollgestopften Hohlräume in 01. So groß, dass sie sich möglicherweise bis zur Außenhülle des Schiffskörpers erstreckt, sie vielleicht sogar durchstößt, falls sie mit eigenem Aussichtsdeck ausgestattet ist. Zu gern würde ich sehen, was gerade unten auf dem Mond vor sich geht.
Der große, strahlend helle Raum ist keineswegs leer. Vier oder fünf Meter von der Wand entfernt beginnen viele Hundert Reihen von milchigweißen kleinen Kugeln, die von Seilen baumeln und von einem Dickicht aus leuchtenden durchsichtigen Ästen umgeben sind. Die Spitzen der Äste sind so fein verzweigt, dass die Kugeln wie von Daunenfedern oder Pusteblumen eingehüllt aussehen. Es müssen Millionen winzigster Verästelungen sein, die das aus weiter Ferne einstrahlende Licht so stark brechen, dass die Helligkeit uns fast hätte erblinden lassen. Die nächsten dieser Verästelungen könnten wir zwar ohne Mühe erreichen, doch Kim warnt mich: »Bloß nicht anfassen!«
Die winzigen Zweige sind wunderschön – und zugleich messerscharf.
»Was ist das hier überhaupt?«, frage ich das Mädchen.
»Mutters Archiv.«
Die Äste über unseren Köpfen rascheln und tanzen beunruhigend schnell hin und her. Mit drahtähnlichen
Beinen huschen auf deren Ausläufern kleine Stäbe entlang, wirbeln herum, schieben einzelne Zweige zur Seite und stechen mit ihren Spitzen in die »Samen« der Pusteblumen. Daraufhin ziehen sie sich zurück, widmen sich der nächsten Kugel, bahnen sich den Weg durch das Dickicht von Zweigen, führen ihre Spitzen dort erneut in die »Samen« ein.
»Ich weiß, was das ist«, erklärt Kim. »Man könnte es als Stammverzeichnis des Klados bezeichnen – das Archiv, aus dem sich die Kataloge speisen. Der Genpool . Nur ist es eigentlich zu groß; irgendetwas ist hier anders als in meiner Erinnerung. Aber ich bin mit dem hier vertraut .« Offenbar verblüfft ihn das selbst.
»Klingt so, als hättest du deinen Daseinszweck wiederentdeckt«, sage ich.
»Ja, ich bin zum Laboranten bestimmt. Zum Assistenten der Laborleitung. Das hier sieht wie ein vergrößertes Schaubild meines Labors aus.«
Das Mädchen lächelt. »Das wird Mutter freuen.«
»Die Frage ist nur, warum dieses Labor so groß ist. Die für mich vorgesehenen Arbeitsräume sind viel kleiner. Ich meine, Gene sind ja wirklich winzig, wozu also all der Aufwand?«
Ich glaube, ich kann die Frage beantworten, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Zumal mir die Antwort keineswegs gefällt. Es ist nicht angenehm, in seinem Inneren einen Grundkonflikt auszutragen, und ich schleppe einen ziemlich
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